Viele Feinde der Demokratie pochen heute auf ihr angeblich „gutes Recht“, zu sagen und zu schreiben, was immer sie – insbesondere über Fremde, Immigranten und andere Minderheiten – fühlen und denken und berufen sich dabei auf einen hyperindividualistischen Freiheitsbegriff, ohne sich klarzumachen, dass ein solcher Freiheitsbegriff nicht nur der Vorstellung sozial verantwortlicher Individualität, sondern auch ihrer eigenen Vorstellung einer autoritären und gleichgeschalteten Volksgemeinschaft widerspricht. Im Folgenden möchte ich mit einigen historisch-systematischen Begriffsklärungen erläutern, woher diese Widersprüchlichkeit im Freiheitsbegriff rührt.
Das Individuum als emphatischer Wertbegriff ist, wie wir spätestens seit Volker Gerhardts Studie Individualität. Das Element der Welt (München 2000) wissen, fast so alt wie die Philosophie selbst. Wenn es dennoch oft als eine Erfindung der Neuzeit, genauer der Renaissance, angesehen wird, so liegt das vor allem daran, dass die frühen Ansätze in der griechischen Antike, im Judentum und im Christentum vorübergehend in Vergessenheit gerieten. Erst in der Neuzeit wird Individualität allmählich zu einer allgemeinen Leitvorstellung, so dass nun immer mehr Menschen sich selbst, ihre eigenen Antriebe, Wünsche, Einsichten zum Ausgangspunkt der denkenden und handelnden Bewältigung von Problemen und der Orientierung in einer sich wandelnden Welt nehmen. Es ist dies die geistige Basis, von der her zunehmend die Ansprüche traditionaler Gesellschaften, die Unterordnung unter Hierarchien der Macht und des Wissens in Frage gestellt werden. Emanzipation und Aufklärung, der „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant) sind die Folgen dieses Perspektivenwechsels.
Stand, Geschlecht, Rasse werden hinfort nicht mehr als schicksalhafte Lebens-determinanten mitsamt ihren sozialen Statuszuweisungen einfach hingenommen.
Während noch in der Hochscholastik, etwa bei Thomas von Aquin, das mensch-liche Individuum ausschließlich wegen seines Personseins, d.h. als ein zu mora-lisch verantwortlichem Handeln befähigtes Wesen, aus der übrigen Natur her-ausgehoben wird (Summa theologica I, 29, 3) und auch in der Reformation die Individualisierung noch weitgehend auf das Ich als Instanz moralischer und reli-giöser Entscheidungen beschränkt blieb, werden in der Folgezeit auch die Natur-kräfte des Menschen, die je besondere Mischung aus geistigen und körperlichen Merkmalen und Anlagen, zum Wert an sich erklärt. Nicht mehr nur die Person, sondern die Persönlichkeit als Inbegriff spezifischer Charaktereigenschaften, schließlich auch das Individuum als leibhaftiger, in Fleisch und Blut existieren-der Mensch wird nun zum Selbstzweck, vor dem sich alle soziale Ordnung rechtfertigen muss.
Mit der Aufwertung des Individuums ändern sich in Europa und Nordamerika, später auch in anderen Teilen der Welt, die ethischen, moralischen und religi-ösen Wertvorstellungen und die rechtlichen Normen grundlegend. Bei den Vä-tern der amerikanischen Verfassung ohnehin, aber auch dort, wo die Emanzi-pation des Individuums historisch zunächst die Form der kollektiven Emanzi-pation des Dritten Standes annimmt, sind die modernen Menschen- und Bürger-rechte, die in diesem revolutionären Akt geboren werden, von Anfang an als Individualrechte, als Abwehrrechte gegen den Staat (auch gegen die Kirche) konzipiert. Aus den alten Freiheiten im Plural, die als Gruppenrechte oder Stan-desrechte verstanden wurden, entwickelte sich die Freiheit im Singular. Der Bürger im Sinne des französischen bourgeois, der sich im revolutionären Prozess zum citoyen wandelt, ist in gewisser Weise die Urform des modernen freien Individuums.
In der Folge wird die Bürgerfreiheit entsprechend dem ihr innewohnenden uni-versalen Versprechen generalisiert: aus der Freiheit des männlichen Besitzbür-gers wird im Laufe der Entwicklung auch die Freiheit der Arbeiter, der Frauen, schließlich sogar der Menschen in unterdrückten und kolonialisierten nichteuropäischen Ländern und der Zugewanderten und in Europa heimisch Gewordenen. Immer neue Gruppen klagen bis heute, sich auf das universelle Freiheitsversprechen der bürgerlichen Revolution berufend, ihre natürlichen Menschen- und Bürgerrechte ein. In diesem Punkt scheint die Dynamik der Aufklärung weitgehend ungebrochen zu sein.
Kein Wunder, dass sich die Individualisierung im neuzeitlichen Europa dem rückblickenden Betrachter zumeist als Erfolgsstory darstellt. Unaufhaltsam, so konnte und kann es erscheinen, setzt sich dieser säkulare Trend auch dort durch, wo die bürgerlich-europäische Geistestradition nicht heimisch ist oder bewusst unterbrochen wurde, zuletzt noch einmal in einem großen Sprung im annus mirabilis 1989. Aber bei genauerem Zusehen erweist sich der Prozess keineswegs als so geradlinig und widerspruchsfrei, wie er auf den ersten Blick erscheinen mag. Gerade im individualistischen Europa haben wir im vergangenen Jahrhundert die schlimmsten Auswüchse von Kollektivismus und Rassenwahn erlebt, kennen wir die selbstverschuldete Unmündigkeit gedankenlosen Funktionärstums, autoritärer Hierarchien in Parteien, Verwaltungen, Unternehmen und Kirchen. Das erneute Anschwellen fundamen-talistischer und ethnisch-nationalistischer Bewegungen beweist, dass es noch immer oder wieder mächtige Gegentrends gibt.
Neben der Lust an der Selbstverwirklichung scheint es auch eine Lust an der Unterwerfung zu geben. Vielleicht ist es die Angst davor, auf sich allein gestellt sein Leben meistern zu müssen, die uns die Unterwerfung unter einen fremden Willen und unter eine despotische Ideologie attraktiv erscheinen lässt. Denn die Befreiung des Individuums bedeutet auch immer einen Schritt in ungewisses Terrain. Wer mündig sein will, muss sich von vertrauten Gewissheiten lossagen, und mit dem Abstreifen der Fesseln zerreißen nicht selten auch jene Bindungen, die für uns Wärme und Geborgenheit bedeuten. Individualisierung ist anstrengend und kann als Vereinzelung gelesen und empfunden werden, existentielle Heimatlosigkeit kann den Wunsch nach erneuter Einordnung auch um den Preis der Unterwerfung übermächtig werden lassen. Der Zulauf, den seit langem manche Sekten und neuerdings auch wieder autoritäre politische Modelle verzeichnen, beweist, in welchem Maße dies auch heute gilt.
In der Debatte um den (angeblichen?) Verfall des Gemeinsinns werden Individualismus und gesellschaftszerstörender Egoismus oft gleichgesetzt. Das moderne Individuum wird nicht selten als der allzeit nichts als seinen eigenen (materiellen) Vorteil verfolgende Rationalist gedeutet, gegen dessen natürliche Neigungen mit allen politisch-justiziellen und pädagogischen Mitteln das unerlässliche Minimum an Gemeinwohlorientierung mühsam durchgesetzt werden müsse. Gerade in Deutschland hat diese Betrachtungsweise eine lange und ehrwürdige Tradition, die in dem Dualismus von Pflicht und Neigung wurzelt, der in der Kantischen Ethik in exemplarischer Schärfe herausgearbeitet worden ist. Das Moralische und das Soziale erscheint in dieser Perspektive als etwas, das grundsätzlich gegen die natürlichen Neigungen des Individuums durchgesetzt werden muss. Dass das Individuum auch soziale Neigungen kennt, dass es sogar Spaß machen kann, anderen zu helfen, etwas für die Gemeinschaft Nützliches zu tun, dass die anderen Menschen für das Individuum nicht nur Konkurrenten um knappe Ressourcen und damit eine Gefahr oder eine Belastung darstellen, sondern auch eine Quelle der Freude und der Bereicherung sein können, das bleibt dabei oft außer Betracht.
Dieses heute verbreitete Missverständnis des Individualismus beruht darauf, dass zwei in der Moderne auftretende konkurrierende Formen der Radikali-sierung des Individualismus für das Wesen des Individualismus selbst genom-men werden. Es sind dies: 1. Der zuerst und vor allem in der angelsächsischen Welt parallel zum Aufstieg des Kapitalismus früh in den Vordergrund tretende hedonistisch-utilitaristische Individualismus, der das Ich zum Ort rationaler Lust/Unlust-Kalküle versimpelt, und 2. der besonders in Deutschland zu Ansehen gelangte romantische Individualismus, der, von der Einmaligkeit und Unergründlichkeit des Selbst ausgehend, das Leben des Individuums als Abenteuer der Ich-Findung begreift und inszeniert. Beide Radikalisierungen des Individualismus sind in der Tat mit Solidarität und Gemeinsinn schwer vereinbar.
Der hedonistische Individualegoismus führt in der Regel dazu, dass der andere hauptsächlich oder ausschließlich als Konkurrent um knappe Ressourcen oder als bloßes Mittel zu meinem Lustgewinn aufgefasst wird, so dass menschliche Beziehungen zu einem Null-Summen-Spiel gerinnen, bei dem der eine nur gewinnen kann, was der andere verliert. Wo der romantische Individualismus prägend wird, entwickelt sich oft eine welt- und gesellschaftsabgewandte Selbstbezüglichkeit, der der andere als Agent der Überfremdung erscheint und die in jeder Betonung von Gemeinsamkeiten und gesellschaftlicher Verant-wortung nur das eigene Ich kolonialisierende Uneigentlichkeit zu erkennen vermag.
Wer die radikalisierenden Fehlentwicklungen des Individualismus für das Ganze des Individualismus nimmt, gerät angesichts ihrer unbestreitbar gesellschaftszer-störerischen Folgen leicht in das Fahrwasser eines autoritären Antiindividualis-mus. Dabei wird übersehen, dass die flagranteste Verweigerung von Solidarität, die nachhaltigste Zerstörung der Gesellschaft auf das Konto von Bewegungen geht, die sich in Abkehr von der neuzeitlichen Individualisierung dem Kollekti-vismus und der rigiden Gruppenmoral der Gang, der Nation, der Rasse, der Religion, der Partei unterwerfen, denen die Menschenrechte zu Sonderrechten der eigenen Gruppe schrumpfen und die, statt dem Individuum Verantwortung zuzumuten, ihm gestatten, sich hinter einem Wir zu verstecken.
Vor einer solchen antiindividualistischen Regression kann uns eine realistische Deutung des Individualismus bewahren. Zunächst: Solidarität ist nicht Kollektivismus. Solidarität setzt im Gegenteil das Individuum als bewusst und selbständig handelnde Person voraus, sie ist ihrer Möglichkeit und Notwen-digkeit nach ein Produkt der neuzeitlichen Entwicklung und damit von der Individualisierungstendenz gar nicht zu trennen. In anderen Worten: Solidarität ist der Name für jene Bindekräfte der Gesellschaft, die erforderlich und möglich werden, wenn im Zuge der modernen Individualisierung die traditionellen, zu-meist autoritären Ligaturen zerbrechen. Solidarität ist ein Akt bewusster Mitmenschlichkeit, der auf der realistischen Einsicht beruht, dass wir als Individuen aufeinander angewiesen sind; sie leugnet nicht ihre affektive Grundlage im Gefühl der Zusammengehörigkeit, bleibt aber nicht beim Gefühlsausdruck stehen, sondern mündet in bewusstes, sich seiner Voraus-setzungen und Ziele vergewisserndes Handeln.
Das ichstarke, zu autonomem Handeln befähigte Individuum, das die Moderne zum Ideal erhebt, gedeiht weder in Verhältnissen kollektivistischer Ein- und Unterordnung noch in der Isolierung von anderen Menschen. Vielmehr kann sich eine ichstarke Individualität am besten bei Menschen entwickeln, die in stabilen kleingemeinschaftlichen Sozialbeziehungen aufwachsen und sich auch später den Ansprüchen und Widersprüchen ihrer Mitmenschen im Alltag stellen. Die Sozialnatur des Menschen steht nicht im Gegensatz zu seiner Individualität, sondern ist ihr Nährboden. Auch damit dieser Nährboden nicht verdorrt, ist eine am Leitwert der Solidarität orientierte Sozialpolitik nötig. Zugleich gilt, dass in einer modernen Gesellschaft Freiheit, wenn sie für alle gelten soll, immer nur im Rahmen einer auf humanistischen Grundsätzen fußenden Rechtsordnung möglich ist. Aber eine solche Rechtsordnung kann nicht jene Bindungen ersetzen, die vor allem in kleingemeinschaftlichen Verhältnissen der Familie, der Nachbarschaft, des Freundeskreises, des Teams wachsen. Nicht Gemein-schaft oder Gesellschaft, wie der Begründer der deutschen Soziologie, Ferdinand Tönnies, oft verstanden wurde und wird, sondern Gesellschaft und Gemeinschaft muss die leitende Idee einer freiheitlichen Gesellschaft lauten.