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BRONZE, SCHALL UND RAUCH

Norbert Göttler
BRONZE, SCHALL UND RAUCH

Matt glänzte das Metall im sanften Licht der Abendsonne. Siebenundvierzig Augenpaare richteten sich gleichzeitig, wie unter einer geheimen Regieanweisung, auf die quadratische Bronzetafel, die, soeben ihrer stoffenen Umhüllung beraubt, den Blicken der Öffentlichkeit preisgegeben wurde. Applaus wogte auf. Bürgermeister Sebastian Muggenthaler lächelte geehrt und seine Gattin kramte umständlich nach einem Taschentuch. Die etwa zwanzig Zentimeter hohe und doppelt so breite Platte war fest an die Betonbrüstung der neuen Brücke geschraubt worden, deren Bau den städtischen Haushalt über mehrere Jahre hinweg arg gebeutelt und zu hitzigen Debatten im Stadtrat geführt hatte. Heute aber war all das vergessen. Ein festlicher Tag. Die Herren der Mehrheitspartei nippten ebenso versonnen an ihren Sektgläsern wie diejenigen der Opposition. Auch aus deren Reihen war Beifall gekommen, wie der Bürgermeister aus den Augenwinkeln heraus beobachten konnte. Zaghaft zwar, aber immerhin. Das treffendste Symbol dieser kommunalpolitischen Einigkeit war die Bronzetafel selbst: In pathetischen Worten waren darin die selbstlosen Verdienste des Bürgermeisters graviert worden, auch des weit blickenden Stadtrates samt Opposition wurde gebührend gedacht. Schließlich fand sogar die gesamte Bürgerschaft der Stadt Erwähnung, die, wenn schon nicht die Verantwortung, so immerhin doch die nicht unerheblichen Kosten für das Bauwerk zu tragen hatte.
Mehrere Jahre waren seit jener denkwürdigen Abendstunde vergangen. Nicht nur, dass man sich in geselliger Runde oder beim besinnlichen Dämmerschoppen gerne an sie erinnerte, nein, sie hatte auch weitreichende Konsequenzen nach sich gezogen. Hatten sich früher Stadtratssitzungen, die die Gestaltung eines Gedenktages oder einer Einweihung berieten, meist bis über Mitternacht hinausgezogen, waren vertagt, wieder einberufen, vielfach ergebnislos abgebrochen worden, so konnte dieser Tagesordnungspunkt nun schon nach wenigen Minuten als erledigt gelten. „Angesichts der Bedeutungsschwere des Ereignisses“, so der immer gleich lautende Antrag des Bürgermeisters, „sollten wir die Herstellung einer würdigen Bronzetafel in Auftrag geben!“ Die Mehrheitspartei applaudierte, die Opposition klopfte Beifall, einige notorische Nörgler saßen seit den letzten Wahlen nicht mehr im Rat. Die Folge: Mit den Jahren häuften sich die Bronzetafeln, ja es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass sie das Stadtbild mehr und mehr prägten. Fast schon überflüssig zu betonen, dass jedes neu erstellte öffentliche Gebäude, jede Turnhalle, jede Aussegnungshalle, jedes Feuerwehrhaus mit dem kommunalen Bronzesiegel markiert wurde, selbst Friedhofsmauern, öffentliche Toiletten, Parkbänke und Hundetränken kamen nicht mehr ungetafelt davon. Der Stadtarchivar bekam überdies den Auftrag, eine Liste verstorbener Persönlichkeiten aufzustellen, auf dass man ihre Gräber und ehemaligen Wohnhäuser mit Gedenktafeln ziere.

Freilich irrt man in der naiven Annahme, die städtischen Bronzetafeln hätten im Lauf der Jahre keinerlei Veränderung erfahren, die Verantwortlichen hätten monoton und phantasielos das einmal gefasste Konzept tausendmal wiederholt. Weit gefehlt! Aus den handlichen Täfelchen, die der örtliche Silberschmied zur Zufriedenheit aller graviert hatte, waren mittlerweile zentnerschwere, von Spezialfirmen gegossene Metallplatten geworden, die mitunter eine Größe von mehreren Quadratmetern erreichten und nie und nimmer von den städtischen Arbeitern montiert werden konnten! Es blieb keine peinliche Ausnahme, dass die Wand, die den Gedenkblock zu tragen für würdig befunden worden war, sich als zu schwächlich erwies und nach wenigen Tagen unter der Schwere ihres Amtes mit lautem Gepolter zusammenstürzte. Und auch die in gotische Lettern gegossenen Texte, welche Kunde tun sollten von der Erhabenheit der städtischen Obrigkeit, verfielen einem zunehmenden Wandlungsprozess. War in den Anfangsjahren der Bronzezeit neben den politischen Würdenträgern auch noch so mancher Vereinsvorsitzende und Feuerwehrkommandant, bisweilen sogar Architekt und Baumeister der Ewigkeit empfohlen worden, so trat mit der Zeit immer deutlicher ein inhaltlicher Schrumpfungsprozess zutage. Zuerst fehlten die Handwerker, dann die Baumeister, dann die Nutzer der entsprechenden Örtlichkeiten, schließlich die Hinweise auf die Oppositionsparteien, zuletzt war auch vom Stadtrat nicht mehr die Rede. Erst dieses erregte den Unmut der Mehrheitsfraktion, den Bürgermeister Muggenthaler unter Hinweis auf die immensen Kosten pro gegossenen Buchstaben nur mühsam unterdrücken konnte. Es blieb also bis auf weiteres bei der eindruckvollen und – bei einer Schriftgröße von zwanzig bis dreißig Zentimetern – monumental wirkenden Botschaft, die etwa lautete: „Hier errichtete im Jahr 1990 Bürgermeister MUGGENTHALER einen „öffentlichen Springbrunnen!“ In einigen Fällen gar enthüllte er den staunenden Festgästen gar eine Tafel lediglich mit dem spartanischen, in römischen Majuskeln gehaltenem Signum: „MUGGENTHALER!“

Apropos Bürgermeister! Auch an ihm waren die Jahre nicht spurlos vorübergegangen. Zu Beginn seiner verdienstvollen Tätigkeit ein besonnener und bescheidener Mann, hatte sich seit einiger Zeit eine innere Unruhe, eine Art fiebrige Erregung in ihm ausgebreitet. Sie stand in einem seltsamen Zusammenhang mit den erwähnten Bronzetafeln. Je näher der Tag einer Enthüllung rückte, umso stärker erfasste ihn diese nervöse Gereiztheit, er konnte keine klaren Gedanken mehr fassen, stammelte bei Sitzungen wirres Zeug und brach bisweilen in schwere Weinkrämpfe aus. Dieser Zustand steigerte sich in den Stunden vor der Enthüllung bis ins Unerträgliche. Wie ein Tiger im Käfig lief er in seinem verschlossenen Amtszimmer auf und ab und blickte jede halbe Minute auf seine Armbanduhr. Den Beginn des Festaktes – meist quälte sich ein Schüler-Streichquartett durch irgendwelche Haydn-Sonaten – bestand er nur noch mit zusammengekniffenen, bleichen Lippen. Doch dann, endlich, die Enthüllung! Wie zu einer heiligen Handlung schritt er festen Schrittes auf die Tafel zu, schloss ekstatisch die Augen und zog mit einem Ruck das verbergende Tuch zur Seite. Er brauchte die Augen nicht einmal mehr zu öffnen, intuitiv fühlte er die wärmenden Strahlen des schimmernden Metalls in sein Herz eindringen, seine zitternden Hände glitten über die Oberfläche und sogen ein nie gekanntes Gefühl der Ruhe und Kraft ein. „Meine lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger…“ Erschöpft, aber glücklich hob er nun seine schwache Stimme zu einer gelungenen, väterlichen Rede an. Kaum einer der Anwesenden hatte seinen Zustandswechsel bemerkt.

Diese Phasen der trunkenen Zufriedenheit aber hatten immer kürzer Bestand. Immer häufiger trieben Sebastian Muggenthaler wirre Fieberphantasien des Nachts aus dem Bett. Unter dem Vorwand, frische Luft zu schnappen, stahl er sich dann aus dem Haus, tastete sich mit tief ins Gesicht gezogenem Mantel und Hut die dunklen Straßen entlang, bis er an eine jener zahlreichen Bronzetafeln gelangte, die die Bauwerke seiner Stadt zierten. Nicht ohne sich ängstlich umzublicken, schmiegte der Bürgermeister seinen Kopf an die raue Oberfläche des Metalls und küsste schwer atmend die Schriftzeichen. Es konnte kein Zweifel bestehen, der Kommunalpolitiker war der Sucht nach dem edlen Metall körperlich und psychisch total erlegen! Sein krankhaftes Bemühen, die Bronzeflut in der Stadt zu verdoppeln, ja zu verdreifachen, um immer und überall von dem berauschenden Narkotikum umgeben zu sein, begann skurrile Formen anzunehmen. So drang er mit einem Zweitschlüssel des Nachts in das Stadtarchiv ein, um die Liste der stadtbekannten Persönlichkeiten zu fälschen – nahezu jedes zweite Wohngebäude der Stadt wurde daraufhin mit einer Erinnerungstafel geziert! Längst war der städtische Fuhrpark – vom Dienstwagen bis zum Müllauto – mit bronzenen Nummernschildern ausgestattet! Seinen Schreibtisch aus massiver Eiche hatte der Bürgermeister in den Keller des Rathauses schaffen lassen, stattdessen verrichtete er seine Dienstgeschäfte auf einer massiven Bronzeplatte, die auf zwei Zimmererböcken lag! Seiner Ehefrau war die Sucht zuerst aufgefallen, aber in ihrer Ergebenheit hatte sie lange davor die Augen verschlossen. Freilich fand sie schon das goldgefasste Bronzetäfelchen mit der Aufschrift „Agathe Muggenthaler, Frau des Ersten Bürgermeisters“ recht geschmacklos, das sie seit ihrem letzten Hochzeitstag anzustecken hatte. Den letzten Ausschlag gab aber erst jenes mit hauchdünnen, gravierten Bronzeplättchen bestickte Neglige, das sie vor wenigen Tagen auf ihrem Bett liegend vorfand. Bei verständnisvollen Freunden fand sie schließlich Zuflucht.
„Tja, wie Sie mir das so schildern: ein schwerer Fall von Unsterblichkeitswahn, übrigens nicht gerade selten bei Politikern…“ Der Mann mit der Goldbrille hinter dem wuchtigen Schreibtisch strich sich nachdenklich durch sein Haar. Der Schein der Stehlampe fiel nicht nur auf die Ledercouch in der Ecke und auf dicht gedrängte Bücherregale, sondern auch auf drei Herren, die in dunklen Anzügen vor dem Schreibtisch Platz genommen hatten und sich in dieser ungewohnten Umgebung sichtlich unwohl fühlten. Die merkwürdige Klientel hatte den Professor für Psychiatrie beileibe nicht um ihrer selbst willen aufgesucht, sondern in geheimer Mission ihres Bürgermeisters wegen, dessen Bronzewahn mehr und mehr Unruhe in der Stadt erzeugte. Nach erregten Anrufen aus der Bürgerschaft hatte zuerst die Opposition zaghaften Protest angemeldet, der freilich von der Mehrheitspartei als Kulturbanausentum und Spielverderberei abgetan wurde. Als freilich auch deren Parteiname nicht mehr auf den ehernen Visitenkarten zu finden war, wurden auch hier kritische Stimmen laut. „Also, wie gesagt, meine Herren,“ hob der Professor noch einmal an, „eine Unsterblichkeits-Psychose deutlichen Ausmaßes. Der Mann will, wie einst Nero, mit aller Gewalt in die Geschichte eingehen, er will seinen Namen unsterblich machen. Ein schwerer Fall, mit konventionellen Methoden unheilbar!“ „Aber was sollen wir denn tun?“ wandte zaghaft der Oppositionsführer ein. „So kann es doch nicht weitergehen. Die teuren Bronzerechnungen…!“ „Tja, im Grunde müsste man den Bürgern reinen Wein einschenken und den Bürgermeister in die Psychiatrie einliefern lassen“, entgegnete der gewichtige Seelenarzt. Der Fraktionsführer der Mehrheitspartei erbleichte. „Das, das ist völlig ausgeschlossen, wie würde unsere Stadt dastehen!“ rief er empört aus und fügte etwas leiser, zu seinem Begleiter gewandt, hinzu: „…und das so kurz vor den Wahlen!“ „Wie Sie wollen,“ brummte der Psychiater, „aber ich übernehme keinerlei Verantwortung.“ „Gibt es denn gar keine Möglichkeit der Therapie, schnell und diskret, Sie verstehen?“ Auch dem Oppositionsführer lag verständlicherweise nichts an einem öffentlichen Eklat. Drei flehende Augenpaare waren auf den Psychiater gerichtet, der angestrengt in die Runde blickte und sich umständlich eine Pfeife anzuzünden begann. Man merkte, wie es in ihm rumorte. Bisweilen zuckte es um seine Mundwinkel. Nach einer schier endlosen Weile streckte er den Kopf vor, winkte die anderen heran und begann etwas von einem Plan zu flüstern, den man aushecken müsse, der freilich von einer wissenschaftlichen Fundierung weit entfernt sei…

In den darauf folgenden Wochen schlichen sich in das Leben des Bürgermeisters Sebastian Muggenthaler sonderbare Veränderungen ein. Es begann damit, dass den Verlautbarungen des Innenministeriums, die er jeden Montag auf seinem bronzenen Schreibtisch vorfand, ein Blatt beigeheftet war, auf dem die rot gedruckte Überschrift leuchtete: „Von der Gnade der Anonymität. Oder: Muss unsere Geschichte neu geschrieben werden? – Eine Handreichung zur wissenschaftlichen Fortbildung unserer Kommunalpolitiker.“ Mit was sich das Innenministerium neuerdings beschäftigt! Sebastian Muggenthaler schüttelte den Kopf, warf aber doch einen Blick auf die von einem ihm unbekannten Historiker verfassten Zeilen. Von neuesten Forschungen war da die Rede, die mit Recht die bisherige Geschichtsschreibung in Frage stellten. Sei man bisher davon ausgegangen, dass in der bisherigen Menschheitsgeschichte lediglich mehrere Dutzend Strolche und Halunken in gewichtige Staatsämter gelangt seien, so sei es heute zweifelsfrei erwiesen, dass diese Quote nur die Spitze eines riesigen Eisberges sei. Hunderte, ja Tausende von Gewaltverbrechern, Erpressern, Meuchelmördern und Staatsbankrotteuren hätten immer schon die Königsthrone und Diktatorenstühle, die Präsidentensessel und Abgeordnetenbänke besetzt – freilich schlau genug, nach ihrem verbrecherischen Tun alle Spuren zu verwischen, peinlichst jede Namensnennung auf Urkunden und Tafeln zu vermeiden. Nie mehr würde ihnen irgendjemand auf die Schliche kommen, die Flucht in die Anonymität sei ihnen vollständig geglückt. Der Zorn der nachkommenden Generationen müsse halt nun mit jenen paar Neurotikern – von Nero über Dschingis Khan bis zum Führer des Tausendjährigen Reiches – vorlieb nehmen, die dumm genug gewesen waren, unter jedes Henkersurteil eigenhändig ihr Signum zu setzen. „Ein sonderbarer Wisch!“ murmelte Sebastian Muggenthaler nachdenklich und klingelte seiner Sekretärin nach einer Tasse Kaffee. Auch in anderen amtlichen Akten fand sich jenes merkwürdige Blatt auf einmal.
Wie es der Zufall wollte, stürmte wenige Tage später der Stadtarchivar freudestrahlend ins Büro des Bürgermeisters mit der Nachricht, er habe soeben eine Urkunde aus dem 17.Jahrhundert in einem alten Matrikelbuch entdeckt. Der damalige Bürgermeister habe Weisung erteilt, einer grassierenden Läuseepidemie dadurch Einhalt zu gebieten, dass man die betroffenen Körperpartien mit frischen Kuhfladen bestreiche! „Und wissen Sie, was das Beste ist?“ japste der Archivar vor Vergnügen. „Dieser Dummkopf von Bürgermeister war offenbar noch stolz auf seinen Unsinn. Sehen Sie, wie deutlich er seinen Namen darunter gepinselt hat! Ich werde sofort die Lokalpresse benachrichtigen, die wird eine schöne Story daraus machen!“ Noch ehe ihm Sebastian Muggenthaler, der die Sache überhaupt nicht zum Lachen fand, Einhalt gebieten konnte, war sein rühriger Untergebener schon entschwunden. Der Bürgermeister ließ sich in seinen schweren Ledersessel fallen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er verstand die Welt nicht mehr. Den letzten Rest aber versetzte ihm am Nachmittag die störrische Weigerung des Architekten Weinmüller, sich anlässlich eines Kindergarten-Neubaues zusammen mit dem Bürgermeister in Bronze verewigen zu lassen. „Nein, bitte…“, stammelte er abwehrend, „Sie wissen ja, die Konkurrenz…, und überhaupt ändern sich doch die Geschmäcker im Lauf der Zeit, wer weiß, wie spätere Generationen…“ Unter ähnlichen fadenscheinigen Argumenten verabschiedete er sich rasch.

Sebastian Muggenthaler hatte schwere Stunden durchzustehen. Auch der Spaziergang, der ihn gewohnheitsmäßig nach Dienstschluss an zehn bis zwanzig Bronzetafeln, die allesamt seinen Namen trugen, vorbeiführte, konnte ihn nicht erheitern. In der Nacht befiel ihn ein schrecklicher Alptraum. Wie an einer Schnur gezogen, trippelten da in gespenstischen Tanzschritten weiß leuchtende Wesen an ihm vorbei, bei näherem Hinsehen konnte Muggenthaler sie schemenhaft als Häuser und Brücken, Mauern und Denkmäler identifizieren. Kichernd, einander stoßend und torkelnd, kamen sie auf ihn zu, ja, im blassen Mondlicht erkannte er sie als Bauwerke seiner Stadt, viele noch neu, erst kürzlich eingeweiht. Die Bronzetafeln, die sie alle an ihre Bäuche geheftet trugen, hatten noch kaum Patina angelegt und blitzten unheilvoll im Mondlicht. Dort hinten – das war doch dieser abscheuliche Kaufhausbau von letzter Woche! Giftig glänzte seine grüne Stahlfassade, klapperten die undichten Kunststoffenster, während er drohend einen Waschbetonkübel nach dem anderen in Richtung Muggenthaler schleuderte. Und da! Das sündteure Hallenschwimmbad vom letzten Jahr! Es hatte einen riesigen Trichter an seinen Schlund gehoben und schüttete unentwegt einen Kanister Heizöl nach dem anderen hinein, während es dazwischen unanständig rülpste und gluckerte. Und dort! Ein Schauer nach dem anderen jagte über den verkrampften Rücken des Bürgermeisters. Rumpelte da nicht dröhnend das neue Parkhaus daher, dass die Fahrzeuge in seinem Bauch durcheinandergeschüttelt wurden wie Spielzeugautos? Auf seinem Dach stand eine Gruppe alter Männer, deren Schrebergärten dem Projekt hatten weichen müssen. Wild gestikulierend schwangen sie Gartenharken und Rechen! Immer näher war die teuflische Prozession auf Muggenthaler zugekommen, dreißig, vierzig solcher Dämonen umringten ihn nun, ihn, der wie gelähmt auf das Geschehen starrte. Doch der Alptraum sollte seinen grausigen Höhepunkt erst noch erreichen. Wie auf ein gemeinsames Zeichen hielten die Wesen in ihrem Spuk inne, rissen sich die schweren Bronzetafeln vom Leib und begannen, sie auf den wehrlosen Muggenthaler zu werfen. Dabei skandierten sie in vielstimmigem Chor: Mug-gen-thal-er-Mug-gen-thal-er… Schützend hob er seine Hände vors Gesicht, doch die zentnerschweren Platten bedeckten ihn bald bis zum Hals, drückten ihm die Luft ab und erstickten seine Schreie. „Warum zum Teufel gerade ich?“ rieselte es noch durch seine geschwächten Gehirnwindungen, „Alle haben sie doch zugestimmt, die Stadträte, die Opposition, alle, alle!“ Erst als er einen riesigen Metallblock mit der Aufschrift „MUGGENTHALER HAT HIER GEBAUT“ auf sich zufliegen sah, erkannte er, dass sich alle anderen rechtzeitig in die schützende Anonymität verdrückt hatten, dass nur er borniert genug gewesen war, den Rachedämonen auch noch seine Visitenkarte in die Hand zu drücken. „Zu spät!“ durchzuckte es ihn, ehe er, von der Wucht der Platte getroffen, die Besinnung verlor.
Es war ein herrlicher Frühlingsmorgen, als sich wenige Tage später eine festlich gekleidete Gesellschaft am neu erbauten Bürgerhaus der Stadt einfand, um der feierlichen Einweihung beizuwohnen. Alle Honoratioren waren gekommen, die Vertreter der Vereine und Verbände, die Jugend, der Stadtrat. Die Luft war geschwängert von Blütenduft und vom Weihrauch, der dem silbernen Rauchfass des Pfarrers entstieg. Gerührt lächelnd bestieg Bürgermeister Sebastian Muggenthaler das Rednerpodium, nachdem sich die Klänge des Schülerquartetts gelegt hatten, das diesmal eine Sonate von Haydn einstudiert hatte. „Meine lieben Freunde!“ begann der Bürgermeister jovial seine Festrede, während seine goldene Amtskette um seinen Bauch baumelte, „Mit der Einweihung dieses herrlichen Gebäudes, das ein geistiger Mittelpunkt im Leben unserer geliebten Stadt werden soll, ist es mir eine besondere Freude, Ihnen eine wichtige Neuerung mitteilen zu dürfen.“ Sebastian Muggenthaler ließ seine Augen über die Zuhörerschaft schweifen und genoss mit sichtlichem Vergnügen deren, durch die rhetorische Pause sich steigernde Neugierde. „Endlich, nach langen und zähen Verhandlungen mit meinen Kollegen im Stadtrat, ist es mir gelungen, mit einem alten Zopf – so möchte ich sagen – zu brechen: ich meine die Enthüllung dieser leidigen Bronzetafeln. Eine aufgeklärte Gesellschaft, so meine ich, sollte auf solch archaische Zeichen nicht mehr angewiesen sein!“ Man hätte angesichts der verblüfften Stille im Auditorium eine Stecknadel fallen hören. „Freilich, meine lieben Freunde“ – Muggenthaler blickte väterlich in die Reihen des Stadtrates – „freilich kann man nicht jedem einen solch radikalen Bruch mit dem Liebgewonnenen, Althergebrachten über Nacht zumuten. Und so habe ich mich in den letzten Jahren immer wieder dazu überreden lassen, diese leidige und – weiß Gott teure Tradition – fortzusetzen, obwohl es mir eigentlich widerstrebte, meinen unwürdigen Namen so exponiert zu sehen. Liebe Freunde, Namen sind doch Schall und Rauch, moderne Städteplanung ist Teamarbeit und Gemeinschaftsleistung. In diesem Sinne habe ich Anweisung gegeben, alle angebrachten Bronzetafeln wieder einzusammeln und zugunsten unserer ehrwürdigen Stadtpfarrei in eine Kirchenglocke umgießen zu lassen!“ Die letzten Worte bereits waren im aufbrandenden Beifall aller Beteiligten untergegangen, die Stadtkapelle hob zum Ehrenmarsch an, auch achtete niemand mehr auf den Psychiatrieprofessor, der, nachdem er den Fraktionsvorsitzenden des Stadtrates kurz zugeblinzelt hatte, seine Pfeife anzündete und heftig schmauchend seines Weges ging. Die so verdienstvoll gespendete Kirchenglocke aber, die schon kurze Zeit später gegossen und installiert wurde, nannte der Volksmund alsbald nur noch MUGGENTHALER-Glocke, was dem irritierten Bürgermeister zunächst noch einige schlaflose Nächte bereitete, später aber nur mehr den Morgenschlummer raubte, wenn sie mit ihrem mächtigen Geläut die Gläubigen zur Frühmesse rief.