DER NACHRUFSCHREIBER
Norbert Göttler
DER NACHRUFSCHREIBER
Ohne seinen dünnen Hals über Gebühr verdrehen zu müssen, konnte G.L. von seinem Schreibtisch aus die emsigen Handgriffe der Arbeiter beobachten, die schwere Rollen Zeitungspapier aus einem Lieferwagen zerrten und auf dem Hof stapelten. Auch heute hatte G.L. gelangweilt die Augenlider gehoben, als das erste Fuhrwerk die beschrankte Pforte passiert hatte. Nicht eines besonderen Interesses wegen verfolgte G.L. tagein tagaus dasselbe Geschehen, sondern allein um die Zeit totzuschlagen, die unendlich zäh und klebrig von der Bürouhr die vergilbten Wände herab zu laufen schien. Genauer gesagt, schien die Zeit in dem winzigen Kellerraum bisweilen gänzlich still zu stehen, den G.L. täglich gegen acht Uhr morgens betrat, um ihn erst abends wieder zu verlassen. Nur äußerst selten klopfte ein Besucher an die schäbige Bürotüre, und wenn es geschah, hatte er mit Sicherheit die Zimmernummer verwechselt. Das mausgraue Telefon auf dem Schreibtisch konnte mitunter in tagelange Schweigsamkeit verfallen, und die wenigen Bücher und Journale im Wandregal bedeckte eine dicke Staubschicht. Tag für Tag nahm G.L. morgens auf seinem Stuhl Platz, starrte auf das Telefon, trommelte mit den Fingern auf die raue Tischplatte und wartete. Aber nur selten geschah etwas. Die landläufige Ansicht, Zeitungsredakteure seien agile, von Konferenzen und Telefonanrufen gehetzte, ständig irgendwelchen Stories nachjagende Zeitgenossen, widerlegte G.L. durch seine bloße Existenz.
Freilich hatte auch er andere Zeiten gesehen, wenngleich das kleine, dürre Männchen mit den bereits angegrauten Haaren noch nie ein Ausbund von Arbeitswut und Kreativität gewesen war.
Dieser für eine journalistische Karriere durchaus hinderliche Umstand hatte ihn in der Hierarchie des Hauses verständlicherweise immer tiefer rutschen lassen. Vom Samstagsfeuilleton beförderte man ihn kurzerhand zu den Regionalseiten, wo man bald genügend Gründe fand, ihn in die Nachtredaktion versetzen zu können. Für gewöhnlich gilt diese Abteilung, wo man zu nachtschlafender Zeit in menschenleeren Redaktionsräumen verspätete Agenturmeldungen zu bearbeiten hat, als unterste Stufe redaktioneller Existenz. Nicht so im Fall G.L.’s. Nachdem ihn die Kollegen der Frühschicht mehrmals in tiefem Schlaf über unausgewertete Fernschreibermeldungen gebeugt vorfanden, beschloss man, drastischere Maßnahmen zu ergreifen: Man machte ein, ehemals als Rumpelkammer benutztes, auf den Hinterhof weisendes Zimmerchen im Keller des Redaktionsgebäudes ausfindig, möblierte es notdürftig und schickte G.L. dorthin in die innere Verbannung. Der Einfachheit halber, wohl auch, weil er sich nie über den Dienst in tiefster Finsternis beklagt hatte, beließ man ihn bei der Nachtredaktion. Um dieser Exilierung wenigstens einen Hauch publizistischer Notwendigkeit zu verleihen, war man auf einen besonderen Kniff verfallen: Man weitete die Nachtredaktion um ein neues Ressort aus und bestellte G.L. als dessen Abteilungsleiter! Bei der Suche nach einem, den besonderen Umständen angepassten Aufgabenfeld hatte man zunächst seine liebe Mühe gehabt, ehe einem pfiffigen Jungredakteur der rettende Gedanke gekommen war: Könnte man nicht einen eigenen Mann gebrauchen, der sich auf das Abfassen von Nachrufen, von Lobgesängen auf die verblichenen Würdenträger der Gesellschaft spezialisierte? Das misstrauische Stirnrunzeln der leitenden Redakteure löste sich, als man das Für und Wider eines solchen Vorgehens näher erläuterte. Natürlich würde man G.L. nicht mit Nachrufen auf gekrönte Häupter, Staatspräsidenten und Nobelpreisträger beauftragen können, aber da gab es ja auch noch die vielen Philosophieprofessoren, Verbandsvorsitzenden, Fußballclubpräsidenten, ehemalige Filmdivas und in Ehren ergraute Nationaltorhüter, die bisweilen das Zeitliche segneten. Gesagt, getan. Ehe es sich G.L. versah, schraubte man vor sein kryptisch abgelegenes Arbeitszimmer ein Messingschildchen mit der Aufschrift „Nachrufredaktion“, und ein Hausbote versorgte ihn alle paar Wochen mit einigen dürren Agenturmeldungen.
G.L. saß vor seinem Schreibtisch und wartete. Seit Wochen hatte sich der Bote der Spätschicht nicht mehr blicken lassen, niemand hatte mehr einen Nachruf bei ihm bestellt. Vermutlich waren in den übrigen Redaktionen längst jüngere Kollegen beschäftigt, die von der Existenz eines schrulligen Nachruf-Spezialisten in den Katakomben ihres Hauses keine Ahnung mehr hatten. Wahrscheinlich gab es überhaupt keinen Menschen mehr, der wusste, welcher wirkliche Name sich hinter dem Autorenkürzel G.L verbarg. Nach weiteren zwei Monaten wurde das zermürbende Warten selbst dem stoisch seinem Schicksal ergebenen G.L. zuviel. „Wenn du in diesem Kellerloch nicht bei lebendigem Leibe vermodern willst“, so fuhr es ihm in einem Anflug von Empörung durch den Sinn, „dann musst du dein Geschick endlich selbst in die Hand nehmen!“ War er nicht vom Chefredakteur selbst zum Ressortleiter der Nachrufabteilung bestellt worden? Was hinderte ihn daran, selbst aktiv zu werden, Recherchen einzuleiten, den Nachrufmarkt gewissermaßen zu analysieren, anstatt auf nie eintreffende Bestellungen zu warten? Die neue Idee beflügelte ihn. Hastig blätterte er in seinen vergilbten Adressbüchern, Schematismen, Handbüchern und Katalogen. „Hubert K., Vorsitzender des hiesigen Rotary-Clubs, achtzig Jahre…“, murmelte er halblaut vor sich hin, „Baron Wilhelm von D., Ritterkreuzträger und ehemaliger Abgeordneter, zweiundneunzig Jahre…“. Und so ging das weiter. Innerhalb eines Tages hatte G.L. eine alphabetisch geordnete Liste von zehn Persönlichkeiten zusammengestellt, deren Hinscheiden er für die nächste Zukunft in Erwägung zog. Über jeden einzelnen Fall verfasste er in feierlichen, gesetzten Worten einen Nachruf, der das umfassende Wirken des Verblichenen für Staat, Politik und Gesellschaft würdigte und näheren Aufschluss über seine Lebensstationen gab. G.L. lehnte sich befriedigt zurück. Nun konnte er wirklich nur noch darauf warten, wie sich die Dinge entwickeln würden. Und tatsächlich läutete wenige Tage später das Telefon. Es war der Abteilungsleiter der Regionalausgabe, der zu dieser nächtlichen Stunde auch noch Dienst schob. „Hallo, Herr Kollege, entschuldigen Sie die Störung, ich weiß ja, wie beschäftigt Sie sind. Aber ich bräuchte da ein paar Zeilen, Sie haben doch davon gehört, der alte Gerichtspräsident S. ist vorgestern….“ G.L.’s Augen begannen zu strahlen, der stadtbekannte Jurist stand tatsächlich auf seiner Liste! „Aber ich bitte Sie“, entgegnete er liebenswürdig, „ich denke, dass ich Ihnen heute noch behilflich sein kann!“
Es dauerte kein halbes Jahr, da stand hinter allen Namen der ominösen Todesliste sorgfältig ein Kreuz und ein Datum vermerkt. Anfänglich war G.L. noch bei jedem Telefonanruf zusammengezuckt und hatte mit Herzflattern den Augenblick abgewartet, ehe der Redakteur am anderen Ende der Leitung endlich den Namen des Verstorbenen bekannt gab. Würde sein System wieder funktionieren? Es funktionierte immer. Mit tödlicher Sicherheit traf es wieder einen Namen auf seiner Liste. Die Kollegen im Haus äußerten angesichts der schnellen, diskreten und zuverlässigen Arbeitsweise schon ihre Überraschung, G.L. aber erschauderte. Welches böse Spiel trieb da der Zufall mit ihm? Konnten sich nicht Hunderte von anderen bedeutsamen Zeitgenossen finden lassen, die, im biblischen Alter stehend, ihrem Lebensende entgegensahen? Als G.L. den letzten Namen seiner Liste mit einem Kreuzchen versah, zitterte seine Hand, dass ihm der stumpfe Bleistift fast zu Boden fiel. Wie sollte es jetzt weitergehen? Ohne Zweifel musste er eine neue Liste anfertigen. Nein, besser, er würde nur mehr jeweils einen einzigen Nachruf verfertigen, um daran die grausige Wirksamkeit seiner Arbeit besser überprüfen zu können! G.L. atmete schwer, er musste sich jetzt Gewissheit verschaffen. Obwohl es im Hof stockfinster war, zog er mit einem Ruck die schmutzigen Vorhänge vor sein Kellerfenster und schloss die Türe ab. Nur noch die nackte Glühbirne, die über seinem Kopf baumelte, füllte den Raum mit käsigem Licht. Kein Laut drang von draußen herein. Mit wenigen Handgriffen notierte G.L. sechs Namen auf ein Notizblatt und malte davor jeweils eine große Zahl von eins bis sechs. Dann kramte er aus seiner abgegriffenen Aktentasche einen Würfel hervor, den er tags davor in einem Spielzeugladen erworben hatte. Hell klapperte das rote Ding über die Holzfläche des Schreibtisches und blieb schließlich mit einer Vier auf dem Rücken liegen. G.L. schloss die Augen! Das konnte doch nicht möglich sein! Absichtlich hatte er in seine Liste einige Namen aufgenommen, die zu jungen, mitten im blühenden Leben stehenden Menschen gehörten. Einen solchen hatte es jetzt getroffen. Hinter der großen Ziffer vier stand auf dem Notizblock: „Mariana U., fünfundzwanzig Jahre, hoffnungsvolles Jungtalent am hiesigen Schauspielhaus.“ G.L. starrte auf den Block, aber es half nichts, er musste das Experiment jetzt zu Ende bringen! Mit klammen Fingern warf er einige dürre Zeilen des Nachrufes auf ein Blatt Papier. Als er auf die Todesursache zu sprechen kam, zögerte er zunächst, ließ dann einige Zentimeter frei und füllte sie mit kleinen Punkten. Mit kaltem Schweiß auf der Stirn ging er nach Hause, von ihm unbemerkt war es bereits Nacht geworden. Tagelang geschah nichts. Als nach zwei Wochen immer noch keine Nachricht vom Ableben der jungen Schauspielerin zu ihm gedrungen war, atmete G.L. wieder freier. Vielleicht war doch alles nur ein entsetzlicher Spuk gewesen, eine Narretei des Zufalls? Ein makabrer Streich, den ihm seine zerrütteten Nerven gespielt hatten? Ist es nicht natürlich, dass alte Menschen einmal sterben? Alle auf seiner ersten Liste waren alt und hinfällig gewesen. G.L. hatte sich etwas erholt, als nach vier Wochen der Hausbote den Kopf in die Türe zu G.L.’s Kellerraum steckte und aufgeregt zischelte: „Herr L., haben Sie’s schon gehört, die Mariana U., die bekannte Schauspielerin, na, Sie wissen doch…ein Autounfall, heute morgen…!“ G.L. musste sich setzen. Nun war es also Gewissheit geworden. Seine Nachrufe zeigten tatsächlich Wirkung, tödliche Wirkung! Wer hätte das je gedacht. Er, G.L., der als absoluter Versager im Kellerloch vegetierte, ein Herr über Leben und Tod! Ein Todesengel! Wie jeder Journalist hatte er sich zeitlebens gewünscht, seine Zeilen mögen in irgendeiner Weise Wirkung zeigen, etwas verändern, etwas in Bewegung bringen. Aber auf diese Weise! Wer konnte so etwas ahnen? G.L. stand auf und ging in seinem Arbeitszimmer auf und ab, wie ein Häftling in seiner Zelle. Langsam kamen seine überreizten Sinne zur Ruhe, und er vermochte seine Gedanken wenigstens halbwegs wieder zu ordnen. Zunächst nur zaghaft, aber immer deutlicher wahrnehmbar, stieg in G.L. ein Gefühl des trotzigen Aufbegehrens hoch. Warum sollte nur er immer der Verlierer sein? Zeitlebens hatte man ihm zu verstehen gegeben, dass er praktisch über gar keine besonderen Fähigkeiten verfüge. Jetzt hatte sich doch eine außergewöhnliche Begabung bei ihm eingestellt, und was für eine! G.L. lächelte boshaft. Warum sollte er sie nicht nutzen, die einmalig sich bietende Chance am Schopf packen und Nägel mit Köpfen machen! Er versank in tiefes Grübeln.
Die folgenden Monate verbrachte G.L. hinter verschlossener Bürotüre mit systematischen Experimenten. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich jetzt Adressbücher, Namenslisten, alte Zeitungsausschnitte und Landkarten. Innerhalb kürzester Zeit vervollkommnete G.L. sein unverhofftes Talent dergestalt, dass zwischen dem Abfassen eines Nachrufes und dessen beabsichtigter Wirkung nur mehr wenige Stunden verblieben. Außerdem brauchte er jetzt nicht mehr die Sterbeursache vage zu umschreiben oder Platz für spätere Eintragungen freizulassen, sondern konnte ohne längere Umschweife die jeweilige Todesursache eintragen, die daraufhin prompt und zuverlässig eintrat. Andererseits, auch das zeigte sich deutlich im Laufe der Versuche, seinem unterirdischen Treiben waren enge Grenzen gesetzt, die Grenzen seines ihm übertragenen Ressorts. Einmal hatte er seine Hausmeisterin, die ihn schon jahrelang beargwöhnte und wegen jeder Kleinigkeit ankeifte, einer feuerspeienden Straßenwalze anempfohlen. Aber das hatte nicht geklappt. Seine Zeitung hätte ja auch niemals einen Nachruf auf eine unbekannte, alte Concièrge gedruckt, allenfalls eine Notiz im Polizeibericht. Ein anderes Mal wollte G.L. in einem Anflug politischen Sendungsbewusstseins sämtliche Diktatoren und Despoten der Welt unter schrecklichen Qualen ins Jenseits befördern. Auch das war schief gegangen. Mehrere Wochen schon hatte G.L. an den entsprechenden Recherchen gearbeitet, als ihm der Chefredakteur auf vorsichtiges Nachfragen patzig bedeutete, dass das Gedenken an solche Kaliber doch nach wie vor den erfahrenen Kollegen vom Außenressort vorbehalten sein solle. Obwohl G.L. die entsprechenden Nachrufe daraufhin dennoch trotzig verfasste, blieben sie ohne jede Wirkung. Stattdessen zogen Straßenarbeiter wenige Tage später die bereits aufgedunsene Wasserleiche des Chefredakteurs aus einem Kanal, was in der Stadt beträchtliches Aufsehen verursachte. Der pünktliche und einfühlsame Nachruf G.L.’s auf seinen ehemaligen Vorgesetzten fand bei Kollegen und Freunden allgemeine Anerkennung. Die Erfahrung aber, dass Ressortgrenzen auch für diabolisch begnadete Redakteure unüberwindbar sind, musste G.L. heftig murrend akzeptieren.
„Hallo, mein Lieber, Sie haben in den letzten Monaten ja prächtige Fortschritte gemacht, man erkennt Sie ja kaum wieder!“ G.L. zuckte zusammen, denn, ohne zu klopfen, war der neue Chefredakteur eingetreten und stand nun massig in dem winzigen Kellergemach. G.L. brütete gerade über einer neuen Namensliste, die er nun angesichts der unerbetenen Störung nervös unter der Schreibtischkante verschwinden lassen wollte. Erleichtert stellte er fest, dass der Vorgesetzte kein Misstrauen geschöpft hatte, sondern unbeirrt seinen Gedankengang fortsetzte: „Nein, im Ernst, Sie haben in letzter Zeit zu unserer vollen Zufriedenheit gearbeitet. Ich glaube fast, dass wir Sie früher etwas verkannt haben.“ G.L saß immer noch verkrampft auf seinem Stuhl, sagte kein Wort, sondern beobachtete mit zusammengekniffenen Augen den vor ihm Stehenden. „Also, um es kurz zu machen, lieber G.L., seit dem Hinscheiden meines Vorgängers ist ja personell etliches in Bewegung geraten, kurz: wir möchten, dass Sie die Leitung des Kulturteiles unserer Zeitung übernehmen. Sie sind doch einverstanden?“ G.L. rutschte noch ein wenig tiefer auf und äußerte einige Laute des Widerstands. „Nein, nein, Sie brauchen mir nicht zu danken“, ließ ihn der Chefredakteur erst gar nicht zu Wort kommen. „Bei uns wird Leistung immer belohnt!“ Und mit einem angewiderten Blick drehte er sich um in Richtung Türe: „Natürlich brauchen Sie nicht weiter in diesem Loch zu hausen, Sie wissen ja, wo sich die Kulturredaktion befindet. Wird Zeit, dass Sie mal wieder das Tageslicht sehen! Viel Glück also!“
Es brauchte nur einige Tage in seinem neuen Tätigkeitsfeld, dass sich der furchtbare Verdacht G.L.’s bestätigte: Mit Aufgabe der Nachruf-Redaktion hatte sich seine besondere, sozusagen außergewöhnliche Fähigkeit vollkommen verflüchtigt! Zweimal hatte er noch versucht, einen arroganten Schriftsteller, der ihm einen Interview-Wunsch unter Zuhilfenahme der unflätigsten Verbalinjurien abgeschlagen hatte, mittels Pest und Cholera ins Jenseits zu befördern. Jener aber hatte nur einen leichten Anflug von Grippe verspürt und dem keine weitere Bedeutung beigemessen. G.L. war außer sich. Gerade jetzt mussten ihn seine Kräfte verlassen. Diesen einen Fall wollte er noch auf sein ohnehin strapaziertes Gewissen laden, diesen hochnäsigen Schreiberling noch zur Strecke bringen, dann, ja dann sollte ein neues Leben beginnen. Ein ruhiger Lebensabend als anerkannter, erfahrener Chef des Kulturteiles! Die entschwundenen, dämonischen Kräfte mussten mit dem muffigen, nächtlichen Kellerraum in Verbindung stehen, in dem er die letzten Monate zugebracht hatte. Besessen von seiner Idee, schlich G.L. die Nottreppe neben dem Lift hinunter in die Kelleretage und versteckte sich hinter einem dunklen Mauervorsprung. Sein ehemaliger Arbeitsraum hatte schon einen neuen Benutzer gefunden, einen pickeligen Volontär, dem man nur deshalb noch nicht gekündigt hatte, weil man ihn momentan gut für dringende Archivarbeiten gebrauchen konnte. In dem Augenblick, in dem der blasse, junge Mann mit einem sonderbar nervösen Gesichtsausdruck aus dem Zimmer trat, um in der nahe liegenden Toilette zu verschwinden, setzte sich G.L in Bewegung. „Jetzt oder nie“ fuhr es ihm durch den Kopf, „es ist das letzte Mal!“ Hastig drückte G.L. die knarrende Klinke herab und trat an den Schreibtisch, der jetzt mit Archivalien aller Art voll gepackt war. Mit einem Griff zückte er einen Füllfederhalter aus seiner Jackentasche und begann mit wenigen Worten den Nachruf auf jenen Schriftsteller zu verfassen, der seinen abgrundtiefen Zorn hervorgerufen hatte. Er war fast bis an das Ende des Textes angelangt, als sein Blick zufällig auf ein Stückchen Papier fiel, das aus der Schreibtisch-Schublade lugte. Sollte er etwas übersehen haben, als er neulich das Büro räumte? Misstrauisch zog er das abgerissene Blatt heraus, starrte auf die, in schülerhafter Schrift hingeworfenen Zeilen, ohne ihren Sinn zunächst zu begreifen. „Nachruf“, stand da dick unterstrichen geschrieben, „Schnell und unerwartet verschied heute während der Dienstzeit der erst kürzlich ernannte Kulturchef unserer Zeitung, der mit seinem Autorenkürzel G.L. einer breiten Leserschaft bekannt geworden ist und sich große Verdienste um unsere Redaktion erworben hat…“
G.L. wurde es schwarz vor Augen. Er wankte. Vor dem Kellerfenster stapelten Arbeiter im Schein der Halogenleuchten schwere Papierrollen auf einen Haufen, und über dem Schreibtisch tickte die altmodische Uhr wie eh und je. G.L. aber sah und hörte bereits nichts mehr.