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DIE ZWILLINGE DER GAZELLE

Norbert Göttler
DIE ZWILLINGE DER GAZELLE

Der Nieselregen legt einen schmierigen Film über den Parkplatz und treibt nasse Kälte vor sich her. Wind dringt durch die Fugen der Autotüren. Eine junge Frau hat ihren Wagen dicht unter einer alten Fichte geparkt und die Sitzheizung eingeschaltet. Jetzt zählt sie die dicken Tropfen, die in regelmäßigen Abständen von den Zweigen auf das Dach fallen. Von Zeit zu Zeit schaltet sie den Scheibenwischer ein und späht hinaus in die Nacht. Ein halbes Dutzend Autos steht auf dem abgelegenen Parkplatz vor der Stadt, große Geländewägen zumeist, jeweils einige Meter voneinander entfernt. Im zittrigen Licht der Innenraumlampen sind die Silhouetten der anderen Frauen auf den Fahrersitzen zu sehen. Eine blättert in Illustrierten, eine andere scheint sich mit dem Lippenstift zu schminken. In manchen der Autos ist es dunkel. Vor einer halben Stunde war ein fremder Wagen in Schrittgeschwindigkeit vorgefahren. Zwei Typen saßen darin und leuchteten mit einer Taschenlampe durch die beschlagenen Scheiben. Polizei in Zivil? Vielleicht. Oder doch zwei Verrückte? So was kam hier immer wieder vor. Gott sei Dank hatten sie bald ihr Interesse verloren und waren davon gerauscht. Wie gesagt, keine Seltenheit. Ein fader Geschmack auf der Zunge bleibt dennoch zurück. Wie lang das jetzt schon so geht? Wie lange das noch so gehen wird? Man wird seltsam mit der Zeit in diesem Job. Schon jetzt muss sie sich manchmal die Augen reiben, um in die Wirklichkeit zurückzufinden.
Zum wiederholten Mal kramt die Frau in ihrer Handtasche. Dann blättert sie lustlos in einem Modejournal, wirft es nach wenigen Minuten auf den Rücksitz und schaltet das Radio ein. Elektronische Lounge-Musik, unterbrochen von den sterilen Sätzen des Verkehrsfunks. Das übliche um diese Zeit. Immerhin eine Stimme, immerhin vergeht die Zeit dieser Regennacht. Welch eine trostlose Nacht! Drehen am Knopf, einen anderen Sender suchen. Religiöses Nachtprogramm. Eine salbungsvolle Stimme spricht über das Hohe Lied Salomons. Auch damit vergeht die Zeit. Wortfetzen des Sprechers dringen in die Wattewelt ihrer Müdigkeit. Nach einiger Zeit gibt sich die Frau einen Ruck, holt eine Zigarette hervor, kramt wieder in ihrer Tasche, diesmal vergeblich. Kein Feuer! Sie öffnet die Wagentüre, wirft sich eine Jacke über den Kopf, steigt aus und stöckelt zum nächsten Auto, einem schwarzen Geländewagen.
„Bist du verrückt? Bei dem Wetter!“
Das Mädchen am Steuer des großen Wagens hat zwar die Scheibe heruntersurren lassen, ist über den unerwarteten Besuch aber nicht erfreut. Kontakte zwischen den Frauen sind nicht erwünscht. Wenn einer ihrer Beschützer auftaucht, gibt es Ärger. Die Frauen wissen das.
„Hast du Feuer?“ fragt die junge Frau tonlos.
Die Blondine am Steuer zuckt mit den Schultern, greift neben sich und reicht ein Feuerzeug heraus. Die beiden sehen sich nicht in die Augen. Im Schein des aufflammenden Lichts sieht man die geschminkten Züge der beiden Frauen. Und die auffallend roten Haare der Draußenstehenden.
„Danke. Beschissene Nacht heute, nicht wahr?“, sagt sie.
„Auch nicht schlechter als sonst. Geh jetzt zurück in deine Kiste, bevor sie Stunk machen.“
„Ach was, die sollen sich nicht so haben. Aber du hast Recht. Man holt sich ja den Tod heute. Lange mach´ ich das nicht mehr mit.“
„Hast ´nen Durchhänger? Rauch was.“
Die Rote zuckt mit den Schultern. Sie seufzt und geht zurück zu ihrem Wagen. Die Kälte steigt ihr die Beine entlang. Die dünnen Nylons wärmen nicht. In der Ferne torkelt ein Betrunkener von Auto zu Auto. Er flucht, weil niemand öffnet, und verschwindet dann in der Finsternis. Man hört das Anlassen von Motoren, Lichtkegel durchschneiden die Nacht. Die ersten geben die Hoffnung für heute auf und fahren heim. Manche von ihnen zu biederen Ehemännern und zu schlaftrunkenen Kindern. In vorgewärmte Betten. Sind sie zu beneiden? Einen Biederen sucht sie nicht, die Rote, eher schon einen Besonderen. Das schon. Das schon lange. Aber Besondere sind selten. Besonders hier auf der Straße. Wenn nur die Müdigkeit nicht wäre. Wenn ein Freier kommt, soll sie schließlich frisch aussehen und appetitlich. Wer zahlt schon für eine verschlafene, gelangweilte Hure?
Sie sitzt in ihrem Wagen und starrt auf die Uhr. Der Kopf fällt ihr zur Seite, dass die roten Haare strähnig über den Fahrersitz fallen. Für Minuten nickt sie ein. Ist nicht mehr in dieser Welt. Wie so oft in letzter Zeit. Im Halbschlaf hört sie etwas. Ein Klopfen. Es ist wohl das übermüdete Herz, denkt sie benommen. Das Herz und die überreizten Nerven. Nochmals ein Klopfen. Jetzt öffnet sie die Augen. Sie muss sich zusammen nehmen. Tatsächlich, das Klopfen kommt von der Seite, von ihrer Autortüre. Die Umrisse eines Mannes sind erkennbar. Die Rote zögert, mustert die fremde Erscheinung, drückt dann auf den Schalter und öffnet die Scheibe einen Spalt. Der Mann draußen nähert sich nicht. Er spricht kein Wort.

„Was…was kann ich für Sie tun?“
Die Rote ist irritiert. Noch nie hat sie einen Kunden so angesprochen. Kunden werden abschätzig geduzt. Man blickt ihnen nicht in die Augen. Man küsst sie nicht. Man redet nichts Privates. Staunend bemerkt die Rote, wie ihre Augen die des Fremden suchen. Beide schweigen sie und sehen sich an. Der Fremde ist ihr unheimlich.
„Was wollen Sie?“ wiederholt sie mit brüchiger Stimme.
Nun beginnt auch der Fremde zu sprechen. Seine Stimme klingt dunkel und ruhig.
Fürchte dich nicht, sagt er. Wie schön du bist!
Was hat er gesagt? Die Rote öffnet die Scheibe ein wenig mehr.
Wie schön du bist! wiederholt jetzt der Fremde. Wie Purpur sind deine Haare, ein König könnte sich darin fangen.
Jetzt tritt er tatsächlich einen Schritt näher. Apfelduft ist der Duft deines Atems, sagt er jetzt. Dein Mund köstliche Wein.
Die Rote ist nicht unerfahren. Sie hat viele ungewöhnliche Situationen erlebt. Aber jetzt ist sie sprachlos. Wieder so ein Verrückter? Soll sie den Notruf ihres Handys betätigen? Oder laut hupen, wie es unter ihren Kolleginnen üblich ist? Sie tut keines von beiden. Sie ist wie gelähmt.
„Es…kostet, es kostet…“, stottert sie. Dann schweigt sie wieder.
Wie eine Palme ist dein Wuchs, flüstert der Fremde. Wie Trauben sind deine Brüste! Ersteigen will ich die Palme, ergreifen will ich ihre Rispen.
Gefährlich klingt sie, diese Stimme. Gefährlich und betörend zugleich. Noch könnte die Rote die Fenster schließen, den Wagen starten und davonfahren. Stattdessen zögert sie, öffnet dann die Autotüre und steigt aus. Der Fremde tritt einen Schritt zurück. Sie spürt es, sein Blick liegt auf ihrem Körper.
Dein Schoß ist ein rundes Becken, hört sie ihn sagen. Würzwein mangle ihm nicht. Dein Leib ist ein Weizenhügel, mit Lilien umstellt. Deine Brüste sind wie zwei Kitzlein, wie die Zwillinge der Gazelle.
„Was wollen Sie von mir?“, fragt die Rote jetzt zitternd. „Wissen Sie nicht, wo Sie hier sind?“
Sie blickt auf die Gestalt ihres Gegenübers, die unbewegt in der Dunkelheit steht. Irgendetwas nimmt ihr den Atem. Sie kann sie nur mühsam auf den Beinen halten.
Stark wie der Tod ist die Liebe! sagt das Gegenüber.
Ja, stark wie der Tod ist die Liebe, hört sich die Rote jetzt selbst murmeln. Die Leidenschaft ist hart wie die Unterwelt.
Was sagt sie da? Wovon spricht sie? Die Worte sind ihr selber fremd, aber sie kommen doch aus ihrem Mund!
Der Fremde legt eine Hand auf ihre Schulter. Sie lässt es geschehen. Sie spürt die Finger des fremden Mannes auf ihren Schultern. Der Mann ist stämmig gebaut und blickt die Rote voller Sehnsucht an.
Deine Brüste sind wie die Zwillinge der Gazelle! wiederholt er sein Werben.
Die Rote ist einer Ohnmacht nahe. Sie kann dieser Stimme nicht widerstehen. Ist sie das, die Nacht ihrer Bestimmung?
Böte einer für die Liebe den ganzen Reichtum seines Hauses, so hört sie sich selbst flüstern, nur verachten würde man ihn!
Jetzt legt sie ihre Arme um den Nacken des Fremden. Du aber, mein Geliebter, ruft sie in die Nacht hinaus, du aber bist weiß und rot. Dein Haupt ist reines Gold, deine Locken sind Rispen, rabenschwarz.
Der Fremde hat jetzt ihren Leib umfasst. Sie spürt seinen Atem. Dein Leib ist eine Platte aus Elfenbein, mit Saphiren bedeckt, so hört sie ihn sagen. Deine Schenkel sind Marmorsäulen, auf Sockeln von Feingold!
Die Rote ist nicht mehr in dieser Welt. Sie fühlt sich wie von tausend Händen berührt. Engel umschwirren sie. Sie schwimmt auf einer ungeahnten, wärmenden Woge. Aber jemand vergönnt ihr dieses Glück nicht. Jemand drängt sie zurück, zerrt an ihren Haaren, schlägt ihr in´s Gesicht. Sind es Dämonen? Rachegöttinnen? Wollen sie ihr den Geliebten entreißen?
Stark wie der Tod ist die Liebe, so hört sich die Rote aus der Ferne rufen, doch das Geschrei der bösen Geister übertönt ihre Stimme. Die Rote ist außer sich. Muss sie nicht kämpfen um ihren Geliebten, der endlich, endlich in ihr Leben getreten war? Sie schlägt und tritt nach allen Seiten. Auch mächtige Wasser können die Liebe nicht löschen, auch Ströme schwemmen sie nicht weg, keucht sie atemlos in der Dunkelheit. Eine Dunkelheit, die immer dunkler wird…

Als die Rote wieder zu sich kommt, ist sie umringt von einer Traube Menschen. Die anderen Mädchen sind aus ihren Autos gesprungen und versuchen, die wild um sich Schlagende zu bändigen.
Inmitten der Frauen steht ein kleiner, schmieriger Mann. Er drückt ein Taschentuch an seinen Kopf und wimmert: „Sie ist verrückt geworden, die Kleine. Sie hat mich ganz zerkratzt. Seht her, wie ich blute! Ich habe nur an ihre Scheibe geklopft und schon ist sie auf mich losgegangen! Eine Verrückte ist das, man sollte die Polizei holen…„
Der Wagen der Roten steht offen. Das Autorradio ist angestellt. Der Sprecher beendet das Nachtprogramm. Dies war das Wort zum Sonntag, sagt er. Heute hörten sie Auszüge aus dem Hohenlied Salomonis, dem berühmten Hohen Lied der Liebe…