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DER JUNGBRUNNEN

DER JUNGBRUNNEN

Die Nachmittagssonne schien milde durch das Fenster, tauchte das Zimmer in ein mattes, käsiges Licht und spiegelte sich in dem weiß-gelblichen Lack der Metallbetten. Einige Fliegen surrten in der stickigen Luft umher, andere krabbelten träge und stumpfsinnig die Fensterscheibe auf und ab, als ahnten sie ein frisches, abenteuerliches Leben jenseits der doppelten Glasflächen. Hin und wieder wurde eine von ihnen von einem ekstatischen Taumel erfasst, begann, bald am Lampenschirm anstoßend, bald in den Gardinen sich verfangend, wild durch das Zimmer zu schießen, um schließlich, bereits jeder Sinnesfähigkeit beraubt, mit einem letzten Aufbäumen gegen eine der Fensterscheiben zu prallen und leblos zu Boden zu stürzen. Niemand im Raum beachtete ihren Totentanz. In dieser frühen Nachmittagsstunde waren auch die letzten Reste geistiger Regsamkeit seiner Bewohner einer lähmenden Lethargie gewichen. Vier Männer lebten seit Jahren in diesem Zimmer. Zwei von ihnen konnten allem Anschein nach ihre Betten nicht mehr verlassen. In karierten Schlafanzügen dämmerten sie vor sich hin, wälzten sich hin und her und gaben bisweilen laute Schnarchtöne von sich. Einen anderen hatte der Schlaf während der Zeitungslektüre übermannt. Er saß vor einem wackeligen Tischchen und war über einem alten Anzeigenblatt zusammengesunken, das zu studieren seit Monaten einziger Lebensinhalt für ihn geworden war. Beim vierten konnte man nicht sicher sein, ob er wachte oder schlief. Er war am ordentlichsten von allen gekleidet, saß aufrecht auf einem Stuhl in der Nähe des Fensters, starrte beharrlich auf einen Punkt auf dem Fußboden und pendelte mit dem Oberkörper permanent vor und zurück. Neben ihm lehnte ein Gehstock mit vergoldetem Knauf an der Wand, Zeichen wenigstens zeitweiliger Mobilität. Aber auch der Besitzer des Stockes zeigte keinerlei Reaktion, als in diesem Augenblick, ohne dass es geklopft hatte, die Türe geöffnet wurde. Stimmen wurden laut, und eine Krankenschwester in weißem Kittel trat ein. Sie warf einen kurzen Blick in die Runde, drehte sich dann um und sagte: „Hier müsste es zur Not noch gehen, solange sonst nichts frei ist. Schieben Sie ihn dort in die Ecke.“
Ihr Kommando galt einem jungen Hilfspfleger, der jetzt, eilfertig, aber ein wenig unbeholfen, ein Bett in das Zimmer schob. Auch die Schwester packte mit an, und zusammen dirigierten sie das fahrbare Pflegebett in einen leeren Winkel des Zimmers. Der Pfleger schob ein frisches Nachtkästchen daneben. „So, das wäre für’s erste geschafft!“ schnaufte die Schwester und blickte dabei zur Türe, durch die zögernd eine Frau mittleren Alters getreten war. „Hier kann er einstweilen bleiben. Seien Sie unbesorgt, er ist gut aufgehoben bei uns. Sie wissen ja, während der Besuchszeiten können Sie ihn jederzeit besuchen.“ Mit diesen Worten nickte sie der Frau zu und verließ zusammen mit dem Pfleger den Raum. Die Angesprochene murmelte eine kurze Entgegnung, warf einen scheuen Blick auf die Zimmerbewohner, die keinerlei Notiz von ihr nahmen, und trat dann an das Bett des Neuankömmlings. Der alte Mann, der darin lag und von dem man nur ein blasses Gesicht und eine große, gebogene Nase erkennen konnte, war offensichtlich nicht bei Bewusstsein. Hin und wieder flüsterte er unzusammenhängende Worte, stöhnte leise und lag dann wieder völlig teilnahmslos in seinem Kissen. Die Frau stellte ihre Handtasche ab, strich ihm einige Male über das schüttere, graue Haar und flüsterte ihm beruhigende Worte zu. Dann entnahm sie ihrer Handtasche eine Tüte, öffnete das Nachttischkästchen und legte sie hinein. Sie schüttelte noch einmal die Decke des alten Mannes auf, murmelte den übrigen einen nicht erwiderten Gruß zu und verließ, grundlos auf Zehenspitzen gehend, das Zimmer.

Die Einlieferung des komatösen Patienten, eines Herrn Wiesinger, wie sich aus Gesprächen unter den Schwestern ergab, sollte für mehrere Wochen die einzige Abwechslung im Alltag der Männer im Zimmer 27 des Altenheims „Parkfrieden“ sein. Zeitlos vegetierten sie dahin. Ihr Dämmerzustand wurde nur von den Mahlzeiten, den Pflegemaßnahmen der Schwestern und den gelegentlichen Visiten von Doktor Gregorius, dem Anstaltsarzt, unterbrochen, der geistesabwesend seine Schützlinge inspizierte und irgendwelche selbst entwickelte, aber harmlose Vitaminpräparate verteilte. Gmeinwieser und Müller, die beiden Bettlägrigen, waren nur einige Stunden am Tag ansprechbar. Dann lauschten sie verständnislos dem Rauschen und Dröhnen eines alten Radioapparates, an dem Max, der Zeitungsleser, pausenlos herumschraubte. Müller regte dieses akustische Chaos in der Regel dazu an, rhythmisch gegen die Wand zu schlagen, mit der Zunge zu schnalzen und unzusammenhängende Sätze zu wiederholen. Gmeinwieser, der Kopf an Kopf mit Müller lag, klatschte dann unentwegt in die Hände und kicherte. Die beste geistige Verfassung schien sich der Mann mit dem Gehstock bewahrt zu haben. Freilich war er wenig zugänglich. Er ging oft stundenlang im Zimmer auf und ab, schweigend, mit dem Oberkörper wiegend und vor sich hinstarrend. Seiner dichten weißen Haarmähne, seiner buschigen Augenbrauen und seines ungewöhnlichen Gehstockes wegen wurde er von den Pflegern scherzhaft mit „Herr Graf“ angeredet. Er quittierte diese Ehre mit bösem Gemurmel und grimmiger Miene.

So zogen sich die Wochen hin. Besuch war selten. Bisher jedenfalls. Mit dem Einzug des Herrn Wiesinger hatte sich zumindest dieser Punkt geändert. Jeden dritten Tag, Punkt 17 Uhr, betrat die besagte Dame mittleren Alters das Zimmer, setzte sich für wenige Minuten an das Bett ihres Schützlings, strich ihm die Decke glatt, ordnete die Utensilien des Nachttisches und murmelte dabei einige Sätze. Wiesinger selbst schien von der Visite kaum Notiz zu nehmen. Er hatte stets die Augen geschlossen und bewegte sich kaum. In seine Nase war ein dünner Plastikschlauch eingeführt worden, der seinen Körper mit einer Nährflüssigkeit versorgte. Nach exakt einer Viertelstunde beendete die Frau ihren Besuch, stellte ihren Stuhl an seinen Platz zurück und verließ das Zimmer.
Die Schwester rang immer noch nach Atem. Dann fasste sie sich, denn in den langen Jahren ihrer beruflichen Tätigkeit hatte sie schon vieles erlebt. Sie nahm den Greis am Arm, führte ihn behutsam an sein Bett zurück und sagte begütigend: „Aber natürlich werden wir das Fenster etwas öffnen, Herr Gmeinwieser. Jetzt legen wir uns erst wieder in das Bett zurück, dann werde ich das für Sie erledigen…“

Es vergingen nur wenige Tage – Gmeinwieser hatte es sich mittlerweile zur Gewohnheit gemacht, mehrfach am Tag sein Bett zu verlassen und mit den Schwestern ein wenig zu plaudern – als ein neuer Vorfall den Alltag auf Zimmer 27 unterbrach. Es begann damit, daá im Schwesternzimmer heftig die Alarmglocke läutete. Ein Blick genügte, der Hilferuf kam aus Zimmer 27! Schwester Martha setzte sich in Bewegung. Wenige Augenblicke später war sie an Ort und Stelle. Nichts Ungewöhnliches war zu erkennen. Alle fünf Herren lagen oder saßen auf ihren angestammten Plätzen. „Hat von Ihnen jemand geläutet?“ Niemand rührte sich. Martha wollte eben unwillig wieder abziehen, als eine dünne Stimme sagte: „Ich, Schwester. Ich habe geläutet.“ Schwester Martha blickte ungläubig auf den Zeitungsleser, der wie immer an seinem Tischchen in der Mitte des Raumes saß. „Sie Max? Sie haben geläutet?“ „Ja, ich habe geläutet.“ „Und aus welchem Grund, wenn man fragen darf?“ Max antwortete nicht, sondern deutete stattdessen mit seinem zittrigen Zeigefinger auf die Zeitung, die vor ihm lag. Die Schwester runzelte die Stirn. „Ich verstehe nicht, was Sie meinen.“ „Hier! Sehen Sie doch selbst. Was sagen Sie dazu?“ Martha starrte verständnislos auf die Zeitung. „Ich kann nichts erkennen. Was meinen Sie?“ Max schüttelte den Kopf und deutete nochmals auf das Tischchen. „Nun, was sehen Sie hier?“ „Was ich sehe? Eine alte Zeitung.“ Max nickte grimmig mit dem Kopf. Sein Tonfall nahm an Schärfe zu. „Genau das sehe ich auch. Eine alte Zeitung! Verstehen Sie? Eine alte, uralte Zeitung! Ich habe vorhin den Pfleger nach dem heutigen Datum gefragt. Dieses Blatt ist über vier Jahre alt! Ich hatte längst einen Verdacht in der Hinsicht. Verstehen Sie jetzt? Man gibt mir hier eine Zeitung zu lesen, die vier Jahre alt ist! Was haben Sie dazu zu sagen?“ „Aber…aber, Max, aber…“ „Nichts aber! Für was bezahle ich die hohen Pflegekosten dieses Heimes? Da sollte doch zumindest t„glich eine aktuelle Tageszeitung im Service inbegriffen sein. Meinen Sie nicht?“ „Ja…nein… ja…selbstverständlich.“ Schwester Martha, sonst nicht auf den Mund gefallen, verließ fluchtartig das Zimmer.

„Diese Fortschritte sind wirklich sehr erstaunlich!“ Doktor Gregorius stand zusammen mit Schwester Martha vor Max, der an seinem Tischchen saß, und ungerührt Kreuzworträtsel löste. Der Mediziner hatte den Patienten eben einer eingehenden Untersuchung unterzogen und eine bemerkenswerte Verbesserung seines Allgemeinzustandes diagnostiziert. Die senile Demenz schien völlig geheilt zu sein, der Patient machte den Eindruck, als wäre er um Jahre verjüngt. Gregorius betrachtete die beiden nachdenklich. „Freilich…,“ sagte er, „freilich haben meine selbstentwickelten Vitaminpillen auch schon andernorts sehenswerte Erfolge gezeitigt, aber in diesem Ausmaße…ich muss schon sagen! Ich bin überrascht. Überrascht und ein wenig stolz.“ „Das dürfen Sie auch, Herr Doktor“, pflichtete ihm Schwester Martha bei. „Zumal auch die Patienten Gmeinwieser und Müller…“ Gregorius blickte auf die beiden, die auf einem der beiden Betten saßen und in ein Schachspiel vertieft waren. „Unglaublich. Sie spielen Schach. Wirklich unglaublich.“ „Um so schöner für unsere Heimbewohner.“ „Tja, meine Liebe“, sagte der Doktor im Hinausgehen zu Schwester Martha, „bisweilen kann auch die ärztliche Kunst ihre Erfolge verbuchen. Leider sprechen nicht alle Patienten in gleicher Weise auf die Wirkstoff-Zusammensetzung meines Medikamentes an. Für diese beiden bedauernswerten Geschöpfe“, – er blickte unauffällig auf den komatösen Wiesinger und auf den Grafen, der finster vor sich hinstierte – , „für diese beiden bedauernswerten Geschöpfe scheint das rechte Heilkraut noch nicht gefunden zu sein…“

Doktor Gregorius konnte nicht ahnen, dass es gerade der Graf sein sollte, der wenige Tage später für große Aufregung sorgte. Es war kurz vor dem Nachmittagstee. Alle Zimmerbewohner hatten ihren obligaten Mittagsschlaf gehalten, als einer der Pfleger mit einem Wägelchen die Tabletts hereinfuhr. „Aufwachen, die Herren. Teepause!“ Routinemäßig warf er einen Blick in die Runde. Plötzlich stutzte er. „Hoppla, Freunde!“ rief er. „Hier fehlt doch einer. Der Graf. Wo steckt der alte Knabe denn?“ Trotz ihrer zurückgewonnenen geistigen Frische konnte keiner der drei Männer – der arme Wiesinger lag ohnehin reglos in seinem Bett – Auskunft darüber geben, wo der Graf verblieben war. Sie alle waren eben erst aus ihrer behaglichen Mittagsruhe erwacht. Der Pfleger drehte seinen Kopf hin und her, lupfte die sorgfältig gefaltete Bettdecke des Grafen und bückte sich, als das alles nichts fruchtete, einen Blick unter alle Betten zu werfen. Auch diese Mühe war vergebens. Dann schritt er beunruhigt an das Fenster, um den Mechanismus zu überprüfen, der nur ein Kippen der Fensterflügel erlaubte. Gott sei Dank – der Mechanismus war in Ordnung. Wortlos verließ der Pfleger den Raum und inspizierte alle sieben Räume seiner Abteilung, die Toiletten, die Flure und Abstellkammern. Es half alles nichts – der Graf blieb verschwunden. Jetzt musste gehandelt werden! Der Pfleger trommelte das ganze Personal der umliegenden Abteilungen zusammen, man telefonierte mit der Anstaltsleitung, suchte nach Doktor Gregorius und schickte einen Fahrer, Schwester Martha, die ihren freien Tag hatte, ausfindig zu machen. Das hatte noch gefehlt! Ein geistig verwirrter Pensionist aus dem Heim entlaufen! Ehe man zur äußersten Maßnahme, der Einschaltung der Polizei, schritt, wollte man noch einmal systematisch den gesamten Anstaltsbereich durchkämmen. Eine volle Stunde dauerte das mühevolle Unterfangen. Alle Räume des Hauses, jeder Kellerwinkel, jede Speicherecke wurde durchsucht, der Park durchstöbert. Sogar in dem kleinen Teich, der von den gehfähigen Heimbewohnern wegen seiner Goldfische gerne besucht wurde, stocherte man mit langen Stangen und Gartenharken herum. Vergebens. „Es hat alles keinen Sinn“, meinte der Heimleiter resigniert zu Doktor Gregorius, als man in der Eingangshalle beieinander stand und über die weiteren Schritte beriet. „Wir müssen die Polizei und die Angehörigen benachrichtigen. Erstmals seit sechsundzwanzig Jahren muss unsere Anstalt einen solchen Schritt in die Wege leiten!“ „Und das in meiner Station!“ jammerte Schwester Martha, den Tränen nahe. Ebenso wie den anderen blieb aber auch ihr fast das Wort im Munde stecken, als ihr Blick auf das Eingangsportal fiel, das sich eben mit einem leisen Quietschen öffnete. Herein kam, Hand in Hand mit einer gepflegten älteren Dame aus der Abteilung III a, niemand anderes, als unser Herr Graf! Beide waren sie vollständig neu eingekleidet. Die Dame in einem eleganten Chiffon-Kleid, der Graf in einem modischen Tweed-Anzug mit einer roten Nelke im Knopfloch. Beide hatten sie einen neuen Haarschnitt und dufteten nach Haarwasser und Parfum. „Einen schönen Tag, die Herrschaften!“ rief der Graf wohl gelaunt und schlenkerte mit seiner freien Hand den goldgekrönten Gehstock. „Übrigens, wie gefällt Ihnen unsere neue Ausstattung? Wir waren in der Stadt. Nur ein wenig bummeln…“ Er zwinkerte vielsagend seiner Begleiterin zu, und die beiden schlenderten kichernd an der sprachlosen Gruppe vorbei.

Es dauerte einen Moment, bis Schwester Martha, der Heimleiter, Doktor Gregorius und die übrigen Beteiligten der Rettungsaktion aus ihrer Lähmung erwachten. Der Arzt fasste sich als erster. „Kommen Sie!“ rief er. „Wir dürfen die beiden nicht aus den Augen verlieren!“
Zusammen mit Schwester Martha und dem Heimleiter machte er sich daran, dem fröhlichen Pärchen nachzueilen. Doch im Frauentrakt, wo man die beiden vermutete, war keine Spur von ihnen zu finden. Also machte das Trio kehrt und hastete in die Männerstation zum Zimmer 27. Tatsächlich hörten sie schon von Ferne laute Geräusche, Stimmen und Hallo-Rufe. Schwester Martha riss die Türe auf. Das Bild, das sich ihr darbot, verschlug ihr abermals die Sprache. Der Graf hatte seinen Zimmergenossen eben seine Verlobung bekannt gegeben, der eleganten Dame neben ihm einen Ring an den Finger gesteckt und sie zärtlich in den Arm genommen. Jetzt waren sie im Begriffe, sich leidenschaftlich zu küssen. Gmeinwieser und Müller hüpften in ihren Betten auf und ab und bewarfen das Pärchen lachend mit Kopfkissen und Polstern, während Max auf sein Tischchen geklettert war und mit einem Sektglas in der Hand zu einer feierlichen Festrede ansetzen wollte. „Aber meine Herren…“ Der Heimleiter schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Ich bitte Sie, nehmen Sie doch Vernunft an!“
Auch Doktor Gregorius war außer sich. Er musste sich setzen. „Diese Wirkung, einfach phantastisch!“ flüsterte er tonlos. „Ich bin völlig perplex.“ Schwester Martha sah den Mediziner prüfend an. „Sie meinen, es ist die Wirkung Ihrer Medikamente?“ „Daran kann kein Zweifel bestehen. Seit sich bei den vieren leichte Verbesserungen abzeichneten, habe ich bei ihnen die Dosis verdreifacht. Ich hielt sie für besonders geeignet für eine Versuchsreihe. Und sehen Sie die Wirkung…“ Der Direktor trat auf Gregorius zu. „Wollen Sie damit sagen, dass Sie ein Medikament entwickelt haben, das unseren Gästen einen angenehmeren Lebensabend bescheren kann?“ Gregorius nickte zustimmend. „Herr Direktor, ich glaube, bei aller Bescheidenheit…“ „Gregorius“, fiel ihm der Heimleiter ins Wort. „Sie sind ein Beglücker der Menschheit! Schauen Sie doch selbst! Sie haben einen wahren Jungbrunnen geschaffen!“
„Zugegeben“, stotterte der Arzt vor Aufregung, „ich war immer von der durchschlagenden Wirkung meiner Vitaminpräparate überzeugt. Die ausgewogene Mischung aus Vitamin-F-Derivaten, Calciumscarbonat, Ascorbinsäure…“

„Genug mit dem Unsinn, Sie Scharlatan!“ Augenblicklich war es totenstill im Raum. Sie alle, die alten Männer, Schwester Martha, der Direktor, sie alle hatten es gehört. Max stieg leise von seinem Tisch herunter. Am deutlichsten hatte es Gregorius gehört. Mit zuckenden Mundwinkeln blickte er den Umstehenden, einem nach dem anderen, ins Gesicht. Doch keiner bekannte sich zu dieser despektierlichen Äußerung. Alle wirkten sie gleich überrascht und irritiert. „Ich sage Ihnen, lassen Sie sich von diesem Pillendreher keine Märchen erzählen!“ Wie auf ein Kommando drehten jetzt alle ihre Köpfe und starrten in die Zimmerecke, aus der die energische Stimme zu kommen schien. Alle Augenpaare richteten sich auf – den vermeintlich bewusstlosen Herrn Wiesinger! Der hatte sich mühelos in seinem Bett aufgerichtet und blickte mit grimmiger Mine auf Doktor Gregorius. „Ich habe Ihre sonderbaren Kügelchen umgehend analysieren lassen, Herr Kollege. Sie helfen genauso viel oder wenig gegen das Altern als der tägliche Genuss einer gemeinen Mohrrübe. Reiner Mumpitz!“ Gregorius war käsebleich geworden. „Darf ich mich übrigens vorstellen“, fuhr der plötzlich erstaunlich frische Mann im Bett fort und zog behutsam den Plastikschlauch aus seiner Nase, „mein Name ist natürlich nicht Wiesinger, sondern Steiff. Alexander von Steiff, Professor für Psychiatrie und Gerontologie. Ich meinerseits arbeite seit Jahren an einer Substanz, die in der Lage ist, die Alterungsprozesse des Menschen wirklich zu verlangsamen, ja, wenn möglich, sogar aufzuhalten.“ „Sie…Sie sind Professor von Steiff?“ stammelte Gregorius. „In der Tat, Herr Kollege. Nach jahrelangen theoretischen Forschungen und mehreren Versuchsreihen an mir selbst hielt ich den Zeitpunkt für gekommen, meine Substanz dem rauhen Klima der Wirklichkeit auszusetzen. Doch bevor ich die offiziellen Stellen informierte, musste ich mir Sicherheit verschaffen. Ein wirksames Verjüngungs-Medikament! Das roch doch allzu sehr nach Scharlatanerie! Meine wissenschaftliche Reputation stand auf dem Spiel. Also musste ich einen Weg finden, der mir alle Optionen offen hielt. Man sagte mir, dass ich in Ihrer Anstalt besonders hoffnungslose Fälle von Senilität finden könnte. Und – dass irgendwelche medizinischen Maßnahmen, die meine Kreise hätten stören können, nicht zu erwarten seien.“ Gregorius schnaufte hörbar. „Ich mimte also den Bewusstlosen“, fuhr der Wissenschaftler schelmisch fort, „ließ mich hier einschleusen und der Versuch konnte beginnen. Nur über meine langjährige Assistentin war ich mit der Außenwelt verbunden. Sie besuchte mich wie verabredet jeden dritten Tag. Sie verschaffte mir auch sogleich Gewissheit über die völlige Belanglosigkeit Ihres Medikaments, Herr Kollege.“ Von Steiff hielt einen Moment inne, beugte sich zu seinem Nachttisch, zog die Schublade auf und förderte eine kleine Ampulle hervor. Triumphierend hob er das verstöpstelte Glas in die Höhe. „Dies aber, meine Herrschaften, dies hier ist das wahre Corpus delicti. Eine Substanz, die die Phänomene des Alterns wirklich zu unterdrücken vermag.“ Ein Raunen ging durch den Raum. Die alten Männer blickten sich an. „Eine Schwierigkeit sah ich voraus“, fuhr Professor von Steiff fort. „Ich konnte den Schlafenden ja weder Injektionen noch Pillen verabreichen. Ich musste also eine andere Darreichungsform entwickeln. Kein triviales Problem, das gebe ich zu. Aber es gelang mir schließlich, den Wirkstoff an ein ätherisches ™l zu binden, das der Patient über die Nasenschleimhaut aufnehmen konnte. Ich musste also nur warten, bis alle schliefen. Dann träufelte ich jedem von Ihnen, meine Herren einige Tropfen dieser Flüssigkeit unter die Nase, und – ob Sie wollten, oder nicht – Sie sogen mit jedem Atemzug ein Stück Jugend ein. Nacht für Nacht, Woche für Woche. Ich hoffe, Sie verzeihen mir diese Indiskretion, aber es war ja nur zu Ihrem Besten!“ Allgemeines Gelächter und Applaus unterbrachen die Ausführungen des Gelehrten. Den auf so überraschende Weise verjüngten Heimbewohnern wurde ihr Zustand erst jetzt so richtig bewusst. Sie stießen einander in die Seiten, klatschten in die Hände, und der Graf legte gerührt den Arm um seine Verlobte. Der Professor hielt abermals das Fläschchen hoch. „Nur ich kenne die Formel dieser Lösung“, rief er. „Diese Substanz wird die Welt revolutionieren. Sie werden sehen, in kürzester Zeit werden wir keine Altersheime mehr brauchen, keine Pflegedienste, keine Gerontologen…“ Die letzten Worte hatte der Professor fast feierlich, mit glänzenden Augen gesprochen. Alle im Raum hingen an seinen Lippen. Nur der Direktor machte ein nachdenkliches Gesicht. Er blickte verstohlen zu Doktor Gregorius, der blass geworden war. „Und die Formel für ihre Substanz existiert tatsächlich nur in Ihrem Kopf?“ fragte Schwester Martha staunend. „In der Tat. Alles andere wäre viel zu gefährlich. Die Pharmaindustrie würde keine Mittel und Wege scheuen, sich in Besitz dieser Formel zu bringen. Da stehen Millionen auf dem Spiel!“ „Was…was wird jetzt geschehen?“ flüsterte Doktor Gregorius nervös. „Wann wird die Substanz der Allgemeinheit zugänglich sein?“ Professor von Steiff lächelte siegessicher. „Das wird blitzschnell gehen, mein Lieber. Noch heute werde ich die zuständigen Institute informieren. Ein, zwei Jahre und man wird mir die Substanz aus der Hand reißen!“ Nochmals trafen sich die Blicke des Direktors und seines Anstaltsarztes. „Mein lieber Herr Professor!“ sagte er jetzt und hüstelte. „Ich brauche nicht zu betonen, welche große Ehre es ist, dass Sie gerade unser Haus für Ihren sensationellen Feldversuch gewählt haben. In diesem Moment kann noch niemand abschätzen, welche Konsequenzen diese Tat für einen jeden von uns nach sich ziehen wird. Das muss gebührend gefeiert werden. Bitte, lieber Herr von Steiff, folgen Sie mir ins Direktorium. Wir müssen anstoßen auf Ihren grandiosen Erfolg. Ich zweifle nicht daran, dass mir in diesem Moment ein zukünftiger Nobelpreisträger gegenübersteht. Kommen Sie, lieber Herr Professor, und vergessen Sie ihr Reagenzglas nicht. Es wäre wirklich unverzeihlich, wenn Ihre grandiose Entdeckung durch Unachtsamkeit verschüttet würde.“ Schwester Martha half dem alten Gelehrten aus dem Bett und reichte ihm einen Bademantel des Hauses. Dann nahmen sie und der Direktor ihn in ihre Mitte und verließen das Zimmer. Doktor Gregorius schlich grübelnd hinterdrein.

Es dauerte keine halbe Stunde, bis die Türe zu Zimmer 27 des angesehenen Altenheimes „Parkfrieden“ wieder geöffnet wurde. Zwei Pfleger schoben ein Bett herein und fuhren es in eine Ecke. Sorgfältig stellten sie ein frisches Nachttischkästchen daneben. überrascht blickten Gmeinwieser und Müller von ihrer Schachpartie auf, Max legte seine Zeitung nieder. Der Graf trat an das Bett des Neuankömmlings. Aus der Decke spitzte nur ein blasses Gesicht und eine große Nase. „Na, Sie sind es Herr Professor“, rief der Graf leutselig, „jetzt hätten wir Sie fast nicht erkannt. Können Sie sich von Ihrer alten Rolle so schwer trennen? Wirklich großartig, wie Sie das hingekriegt haben. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie dankbar wir Ihnen sind. Sie haben unseren Ruhestand hier wieder lebenswert gemacht.“ Der Professor rührte sich nicht. Der Graf runzelte die Stirn und trat einen Schritt n„her. „Hallo, Herr Professor, warum antworten Sie nicht? Ist Ihnen nicht gut? … Herr Professor! Herr Professor??“

Die Aufregung über eine vermeintliche wissenschaftliche Entdeckung, so gab die Leitung des Altenheims „Parkfrieden“ wenige Stunden später in einem knappen Bulletin bekannt, habe bei Herrn Wiesinger, alias Professor Alexander von Steiff, einen akuten Schub von Dementia senilis ausgelöst und ihn in einen komatösen Zustand versetzt. Leider müsse davon ausgegangen werden, dass der Patient das Bewusstsein kaum jemals wiedererlangen werde. Der Anstaltsarzt, Doktor Gregorius unternehme aber alle Anstrengungen, die Symptome seines geistigen Verfalls zu lindern. Bedauerlicherweise sei bei dem Anfall auch die Ampulle mit der Substanz zu Bruch gegangen, auf die der Gelehrte so große Hoffnungen gesetzt hatte.
Professor von Steiff blieb auf Wunsch seiner Angehörigen bis an sein Lebensende Pflegling des Altenheims „Parkfrieden“. Jeden dritten Tag wurde er von seiner ehemaligen Assistentin, einer Frau mittleren Alters, für eine Viertelstunde besucht. Sie strich ihm, einer alten Gewohnheit folgend, die Bettdecke zu Recht. Er aber erkannte sie nicht mehr…