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Gastbeitrag: Johano Strasser – Das Glück des Politischen

Der Beruf des Politikers genießt in unserer Gesellschaft kein hohes Ansehen. An den Stammtischen der Republik gelten Politiker oft als bürgerfern, inkompetent und korrupt. Dass man trotzdem von ihnen erwartet, dass sie möglichst alle auftauchenden Probleme umgehend lösen, und enttäuscht ist, wenn das nicht der Fall ist, gehört zu den zahlreichen Widersprüchen im Bewusstsein der Politikkonsumenten. Dass Politik in der Demokratie keineswegs die Angelegenheit einer „politischen Klasse“ oder „politischen Kaste“, sondern die Sache aller Bürger ist, dass wir alle selbst für den Zustand des Gemeinwesens verantwortlich sind, kommt vielen gar nicht in den Sinn.

Dabei bietet die Demokratie den Bürgern viele Möglichkeiten, auf die öffentlichen Belange Einfluss zu nehmen: man kann zur Wahl gehen, in eine Partei, eine Gewerkschaft, einen Verband eintreten und direkt oder indirekt an der Formulierung politischer Ziele mitwirken, man kann für ein öffentliches Amt kandidieren, eine Bürgerinitiative gründen, demonstrieren, Leserbriefe schreiben, man kann Petitionen einreichen, mit anderen reden oder im Internet chatten und sie für die eigene Überzeugung gewinnen. Wer die allen zugänglichen bürgerlichen Freiheiten nicht nutzt, ist zumeist selber schuld.

Und wenn man alle Möglichkeiten der Einflussnahme wahrnimmt und es trotzdem anders kommt, als man es sich wünscht? War dann alles umsonst, das ganze Engagement nichts als verlorene Lebenszeit? Nicht wenige scheinen es so zu sehen, und mancher, der sich einst für ökologische oder soziale Belange, in der Friedensbewegung oder für den Schutz der Umwelt engagierte und erleben musste, dass, was ihm als lautere Vernunft und plausible Gerechtigkeit erschien, dennoch nicht durchsetzbar war, hat der Politik resigniert den Rücken gekehrt. Was ihn natürlich nicht hindert, über die Zustände im Land zu schimpfen und am Küchen- oder Stammtisch zu erklären, was die da oben tun sollten, wenn sie nicht so bürgerfern, inkompetent und korrupt wären.

Ich habe mich mein ganzes erwachsenes Leben lang neben der wissenschaftlichen und literarischen Arbeit auch politisch engagiert, habe geredet, geschrieben, in Wahlkämpfen für meine Kandidaten geworben, ich habe an Programmen meiner Partei mitgearbeitet, in zahllosen Sitzungen um Lösungen für kleinere und größere Probleme gerungen. Selbst habe ich nie ein politisches Mandat innegehabt; aber ich habe als politischer Libero mit Mandatsträgern um der Durchsetzung gemeinsamer Ziele willen zusammengearbeitet. Zugegeben: ich habe meine Vorstellungen nur selten schon gar nicht ohne Abstriche durchsetzen können, und oft wurde mühsam Erstrittenes alsbald wieder kassiert. Aber als Zeitverschwendung oder gar Lebensverfehlung habe ich mein Engagement dennoch nie empfunden, weil für mich Politik einfach zu einem vollständigen Leben dazugehört.

Natürlich geht es in der Politik darum, etwas durchzusetzen, und dazu braucht man Macht. Wer in ein Amt gewählt wird, erwirbt Macht auf Zeit, die er für die Gestaltung der Verhältnisse nutzen kann. Das ist der pragmatisch-technische Aspekt der Politik. Aber darüber hinaus hat die Politik auch eine existentielle Dimension. Die Philosophin und politische Denkerin Hannah Arendt hat einmal davon gesprochen, dass es so etwas wie das Glück des Politischen gibt. Sie, die von der griechischen Polis her dachte, hatte noch einen Begriff davon, was es heißt, wenn man in der aristotelischen Tradition den Menschen als zóon politikón, als politisches Wesen definiert. Für die alten Griechen und für Hannah Arendt war der Mensch erst wirklich frei, wenn er die Sphäre des Privaten verließ und auf die Agorá trat, um die Angelegenheiten des Gemeinwesens, der Polis zu verhandeln. Wer dies nicht tat – oder wie die Sklaven nicht tun durfte – galt in der Antike als Idiótes, als ein in seiner Menschlichkeit beschränktes und beschnittenes Wesen.

Humanismus und Aufklärung, der Liberalismus des 19. und die kulturelle Entwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben zu einer deutlichen Aufwertung des Individuums geführt. Seitdem erwarten wir Glückserfüllung vor allem vom Privatleben. Dennoch gilt auch heute, vielleicht sogar heute erst recht: Wo immer Menschen in Gemeinschaft mit anderen Menschen leben, sind sie verstrickt in Politik. Wir haben nur die Wahl, entweder Objekt des politischen Geschehens zu sein, das heißt, es grollend oder gottergeben über uns ergehen zu lassen (und aus lauter Ärger über die Politik und die Politiker am Ende womöglich Magengeschwüre zu bekommen), oder Subjekt der Politik zu werden und in die politischen Prozesse, so gut es eben geht, einzugreifen. Meine Lebenserfahrung hat mich gelehrt, dass es allemal gesünder und auch lustvoller ist, sich einzumischen.

Copyright:

Prof. Dr. Johano Strasser, Jahrgang 1939, Politologe, Publizist und Schriftsteller. Ehemaliger Präsident des deutschen PEN-Zentrums. Mitglied der SPD-Grundwertekommission.