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Gastbeitrag: Johano Strasser – Der gestirnte Himmel und all das…

Das Ganze ist bekanntlich mehr als die Summe seiner Teile, anderseits ist es, genau betrachtet, aber auch nichts weiter als ein Teil des Unermesslichen. Das Unermessliche seinerseits ist ein zentrales Charakteristikum des Alls, von dem wir heute zu wissen meinen, dass es sich mit rasender Geschwindigkeit nach allen Seiten hin ausdehnt. Dieses unermessliche All ist aber nach verbreiteter Auffassung zugleich der entscheidende Grund dafür, dass uns der Unterkiefer herunterklappt, wenn wir in einer sternklaren Nacht vor die Tür einer Berghütte treten und den Blick zum Himmel erheben. Soweit scheint alles einigermaßen klar zu sein. Aber wie passt nun das hartnäckige Streben des modernen Menschen nach räumlicher und zeitlicher Entgrenzung des ihm zugemessenen Lebens- und Erfahrungsraums in diese Grundkonstellation allen Seins?

Der Mensch oder der menschliche Faktor, das Allzumenschliche, wie Nietzsche seinerzeit gern sagte, ist überall, wo er ins Bild kommt, ein Störenfried, ein lästiger Fremdkörper, ein Stolperstein. Zwar gilt er vielen immer noch als Krönung eines über viele Jahrmillionen dauernden Ausleseprozesses, als etwas, das sich irgendwann irgendwie aus den noch recht bescheiden auftretenden Einzellern entwickelte. Aber wie die verschiedenen Stationen der Menschwerdung denn nun wirklich aussahen, wie das eine aus dem anderen entstand, wissen wir bis heute nicht genau. Auffällig ist allerdings, dass dieser Mensch irgendwann in der frühen Steinzeit aus Gründen, über die wir nur spekulieren können, ganz plötzlich Fahrt aufnimmt und als selbsternannter homo sapiens anfängt Ansprüche zu stellen, die einem evolutionären Zwischenergebnis wie ihm eigentlich nicht ernsthaft zugestanden werden können.

Zu kosmologischem Realismus scheint homo sapiens jedenfalls nicht in der Lage zu sein. Im Gegenteil, er versucht von Anfang an, die ihm zugewiesene Stellung in der Rangordnung des Seins zu verbessern, was ihm bisher aber trotz aller Anstrengungen nicht wirklich gelungen ist. Die Verärgerung über das nicht eingelöste Versprechen, das homo sapiens sich selbst seinerzeit gab, als er daran ging, sich die Erde untertan zu machen, hat ihn schließlich zu der Auffassung geführt, dass er die Evolution selbst in die Hand nehmen müsse. Allerdings sind die ersten Ergebnisse dieser evolutionären Selbstermächtigung, siehe Elon Musk, Wladimir Putin und Donald Trump, alles andere als ermutigend, so dass hier und da schon die Frage gestellt wird, ob es vielleicht nicht besser gewesen wäre, wenn wir Einzeller geblieben wären oder spätestens beim Urang Utan ohne viel Aufhebens aus der Evolution ausgestiegen wären.

Aber was vermögen schon warnende Stimmen, wenn die nach wie vor ungebrochene Fortschrittsbegeisterung die Gemüter vernebelt? Wenn es nach dem selbsternannten Transhumanisten Ray Kurzweil und seinen Anhängern geht, ist homo sapiens heute auf dem Sprung, sich von den Fesseln seiner irdischen Existenz ein für alle Mal zu befreien, indem er mit der von ihm selbst erschaffenen künstlichen Intelligenz verschmilzt und ohne den langwierigen Umweg über Züchtung und Auslese zu einem Übermenschen, genannt Cyborg, wird, dem fortan tatsächlich nichts mehr unmöglich sein soll, ewiges Leben eingeschlossen. Das Startsignal zu dieser evolutionären Endlösung lautet: Singularität, nach Kurzweil der historische Moment, an dem der technologische Wandel die menschliche Existenz auf diesem Planeten irreversibel verändert.

O-Ton Ray Kurzweil: „Wir werden die Macht unserer Gehirne, all die Kenntnisse, Fähigkeiten und persönlichen Macken, die uns zu Menschen machen mit unserer Computer-Macht kombinieren, um auf eine Art zu denken, zu kommunizieren und zu erschaffen, wie wir sie uns heute noch nicht vorstellen können. Diese Verschmelzung von Mensch und Maschine, mit der plötzlichen Explosion der Maschinen-Intelligenz wird, im Verbund mit rasend schneller Innovation in den Bereichen der Gen-Forschung sowie der Nanotechnologie, zu einer Welt führen, wo es keine Unterscheidung mehr zwischen dem biologischen und dem mechanischen Leben oder zwischen physischer und virtueller Realität gibt. Diese technologischen Revolutionen werden es uns ermöglichen, unsere gebrechlichen Körper mit all ihren Einschränkungen zu überwinden. Krankheit, wie wir sie kennen, wird ausgerottet. Die menschliche Existenz wird einen Quantensprung in der Evolution durchlaufen. Wir werden in der Lage sein, zu leben, solange wir wollen.“

Das, meinen Kurzweil und seine Anhänger, sei eine frohe Botschaft, die alle Schwarzseher im irdischen Jammertal aufrichten könnte. Aber wollen wir tatsächlich als sogenannte Cyborgs, als Verschmelzung von Mensch und Maschine, länger und immer länger leben? Und würde die Erde, die schon jetzt unter der Last der vielen Milliarden Menschen leidet, nicht unvermeidlich unter dem schnell wachsenden Gewicht unsterblicher Menschen zusammenbrechen, sofern wir unseren Oikos nicht vorher in unserem Wachstumswahn zugrunde richten? Und wollen wir, wenn es uns schließlich auf der Erde zu eng wird, wenn die vielen Hundert- und Tausendjährigen um uns herum uns mit ihrer Besserwisserei, mit ihren ewig gleichen Geschichten von früher auf den Wecker gehen, wollen wir dann tatsächlich, wie Kurzweils Bruder im Geiste Jürgen Schmidhuber vorschlägt, auf den Merkur auswandern?

Jürgen Schmidhuber, Informatiker, Ko-Direktor des Schweizer Forschungsinstituts für Künstliche Intelligenz und Professor an der saudischen King Abdullah University of Science and Technology, kurz Kaust, hält es tatsächlich für naheliegend, dass eine Kultur des Lebens 3.0, die auf der Basis rein naturwissenschaftlicher Prinzipien beruht, sich schon in den nächsten Jahrzehnten herausbilden wird. In einem Interview mit Adrian Kreye in der Süddeutschen Zeitung vom 5./6. August 2023, erwägt er ernsthaft, dass diese posthumanistische Kultur vermutlich irgendwann auf den Merkur übersiedeln werde, wo die für ihren aufwendigen Lebensstil benötigten Rohstoffe und Energiemengen nahezu unbegrenzt vorhanden seien. Die ausgewanderte KI-Kultur, so Schmidhuber weiter, würde alle notorischen Zauderer und Kritikaster, die partout den angesagten Entwicklungsschritt zum Cyborg nicht mitmachen wollen, dann als aussterbende Kultur auf der Erde zurücklassen. Was das für diese Fortschrittsverweigerer im Einzelnen bedeutet, ob sie eher friedlich dem Ende entgegendämmern werden oder unter ständigem Wehklagen über die verpasste Chance, das irdische Los endgültig hinter sich zu lassen, sagt er allerdings nicht.

Der gestirnte Himmel über mir…, für Immanuel Kant war er noch eine feste Größe, eine zuverlässige Instanz der Orientierung wie das moralische Gesetz in seiner aufgeklärten Brust. Aber das ist inzwischen auch schon wieder mehr als zweihundert Jahre her. Heute, so scheint es, geht die Eroberung des einen mit der Entwertung des anderen, womöglich mit dem Verlust aller moralischen Maßstäbe einher. Macht nix, sagen uns die glaubensstarken Transhumanisten, wozu brauchen wir moralische Maßstäbe, wenn uns die KI, wenn man sie nur machen lässt, ohnehin immer die jeweils beste Antwort auf alle unsere Fragen liefert? Ja, und wenn nicht? Wenn die allwissende und alles könnende KI mit unseren drängendsten Fragen gar nichts anfangen kann, weil ihre Welt eine Welt der streng naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten ist, in der Zweifel und Ambivalenzen gar nicht oder allenfalls als Übergangsphänomene vorgesehen sind, in der wir armseligen Durchschnittsmenschen mit unseren Ängsten und Träumen, mit unserer Sehnsucht nach Schönheit und Liebe, mit unseren zahlreichen Gebrechen und Unzulänglichkeiten, mit unseren zähen Gewohnheiten und unserem verschrobenen Sinn für Humor gar nicht geduldet werden?

Wenn es nach mir ginge, würde der Weltraum für immer oder zumindest für die nächsten tausend Jahre eine No-go-Ära bleiben, eine fremde, geheimnisvolle Sphäre der Träume und der Mythen vielleicht, die ich als irdischer Mensch nur mit Scheu oder Ehrfurcht betrachten kann, in der ich aber sonst nichts weiter zu suchen habe. Es gibt doch hier unten auf der Erde mehr als genug zu tun, damit auch unsere Kinder und Enkel noch die Chance bekommen, ein Leben unter erträglichen Bedingungen führen zu können. Darum bekomme ich vor Rührung auch keine nassen Augen, wenn jemand in seiner Weltraumbegeisterung sich auf den Mond katapultieren lässt und uns Daheimgebliebenen meint mitteilen zu müssen, dass sein Herumtappen im Staub der Mondoberfläche nur ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein gewaltiger Sprung für die Menschheit sei. Ich will gar keine Sprünge machen, keine kleinen und schon gar keine großen und erst recht keine auf dem Mond. Was ich mir für mich und für die Menschheit wünsche, ist ein Leben in Freiheit und Würde, ist eine friedliche Welt, in der wir als Menschen noch lange in respektvoller Koexistenz mit anderem Leben leben können.

Während ein aufgeregter Kommentator im Fernsehen berichtet, dass in den USA wieder einmal eine Gruppe von Milliardären mit einer der Superraketen von Elon Musk zu einem Kurzurlaub ins All gestartet ist, läuft vor meinem Fenster gerade das bescheidene Gegenprogramm: ein goldener Oktober mit Nebelfahnen, die vom See heraufsteigend sich im Himmelsblau auflösen, mit Baumkronen, die im Morgenlicht braun und golden prangen, und einem Bussard, der ohne einen einzigen Flügelschlag im termischen Aufwind seine Kreise zieht. Das eine Spektakel kostet viele Milliarden Dollar, das andere schenkt uns die Natur, obwohl wir, so wie wir mit ihr umgehen, Geschenke eigentlich gar nicht erwarten dürften. Das eine ist eine Sensation, die von den Medien in Windeseile über die ganze Welt verbreitet wird, das andere ein unverdientes und unbedeutendes Privatvergnügen.

Was umsonst ist, hat keinen Wert – das ist nicht nur die Meinung von Leuten wie Elon Musk, es gehört zum Credo unserer kapitalgesteuerten Welt. Und was Millionen und Milliarden kostet, ist besonders wertvoll. Vielleicht erwiese sich sogar ein Umzug unserer Spezies auf den Merkur am Ende doch noch als eine gute, weil einträgliche Sache, zumindest für die, die ihn organisieren und finanzieren, weil sie sonst gar nicht wüssten, wohin mit ihren vielen Milliarden, die doch nur dazu da sind, immer noch mehr Milliarden zu werden. Und was passiert mit uns, wenn wir uns den Transfer ins merkurische Paradies nicht leisten können oder uns aus anderen Gründen weigern, die Erde zu verlassen? Vielleicht sollten wir uns gar nicht mit dieser Frage befassen, weil nüchtern betrachtet nichts von dem, was Leute wie Kurzweil, Musk oder Schmidhuber als Ausweg aus der irdischen Misere anbieten, für durchschnittlich intelligente Menschen ernsthaft zur Debatte steht. Ihre Phantasien lenken nur ab von dem, was tatsächlich auf der Tagesordnung der Menschheit steht. Ob es uns passt oder nicht, wir werden uns in den nächsten Jahren und Jahrzehnten mit so irdischen Problemen befassen müssen wie die Verhinderung einer umfassenden ökologischen Katastrophe und die Schaffung einer wirklich friedenssichernden Weltrechtsordnung.

Ist das zu viel verlangt? Ist womöglich auch das nichts weiter als weltfremde Phantasterei? Ich glaube nicht, dass uns tatsächlich nichts anderes übrigbleibt, als vor Putins aufgewärmten imperialistischen Visionen, Trumps zugleich großkotzigem und kleinkariertem Make America Great Again , Elon Musks kindischen Science-Fiction-Träumen und des biederen Tyrannen Xi Jing Pins beharrlichem Streben nach chinesischer Weltherrschaft zu kapitulieren? Ist das tatsächlich die Welt, die wir unseren Kindern und Enkeln als Vermächtnis hinterlassen wollen? Menschen brauchen Zukunft, etwas, für das es sich zu leben lohnt. Aber haben wir überhaupt noch eine Vorstellung von Zukunft jenseits des Schneller, Höher, Weiter eines altersschwachen zerstörerischen Fortschritts?

Aber ja! Unsere Welt beginnt ja nicht erst mit Henry Ford und erst recht nicht mit Elon Musk und den Seinen im Silicon Valley. Zu unserem kulturellen Erbe gehört auch die Lehre vom richtigen Maß, das Wissen darum, dass immer mehr nicht immer besser bedeutet, dass es Grenzen gibt, die wir respektieren sollten, wenn wir uns nicht selbst schaden wollen, Auch diese Einsicht, die die Humanisten im 15. Und 16. Jahrhundert durch Vermittlung arabischer Gelehrter von den alten Griechen übernahmen, ist Teil unseres kulturellen Erbes und noch keineswegs ausgereizt und abgegolten. Heute kann dieses immer noch aktive Erbe uns helfen, wieder zu begreifen, dass es auf einer begrenzten Erde kein unbegrenztes Wachstum geben kann, in der Natur nicht und auch in der Wirtschaft nicht, und dass Maßhalten nichts mit geistiger Trägheit und Antriebsschwäche zu tun hat, sondern Ausdruck von kluger Einsicht in die condition humaine ist. Und wenn wir dies begriffen haben, können wir auch mit Zuversicht an den Umbau unserer gesellschaftlichen und politischen Institutionen gehen, statt die Erde weiter zu ruinieren und im Weltall nach Ersatz für unsere Heimat zu suchen.