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Identität, Identitätskrise, Identitätsverlust

„Feste und Bräuche stärken unsere Identität!“
„Oktoberfest und Lederhose gehören einfach zur bayerischen Identität!“
„Wenn das so weitergeht, verlieren wir noch unsere Identität!“

 

Kaum eine touristische oder heimatpflegerische Broschüre, die nicht auf den markigen Begriff „Identität“ verzichten will. Dabei gehört er eher zu den schwierigen, in der Philosophiegeschichte heftig diskutierten Themen. Was bedeutet Identität für einen Einzelnen? Was für eine soziale Gruppe? Gibt es so etwas wie eine nationale Identität? Brauchen wir überhaupt Identität und Identifizierung?

Nebenher gesagt: Der Begriff „Identität“, der sich vom lateinischen Wort „idem“ (dasselbe) ableitet, wird auch in der Mathematik und in der Logik verwendet. Damit wollen wir uns aber hier nicht beschäftigen. Schon der psychologische Begriff ist kompliziert genug, aber wir wollen uns nicht entmutigen lassen!

Die Identität des Einzelnen

Persönliche Identität ist die Summe der Eigenschaften, die unsere Persönlichkeit bildet. Die Summe der Eigenschaften, die uns von anderen unterscheidet. Aussehen und Charakter spielen eine Rolle, aber auch Fähigkeiten und Emotionen, familiäre Prägungen und Zukunftshoffnungen. Schnell stoßen wir aber auf eine Grauzone: Ist das oder jenes wirklich so existentiell, oder nicht doch eher zufällig, beliebig, verzichtbar?

Zwei Beispiele? Der Kater Eugen bleibt Kater Eugen, auch wenn ihm die Nachbarkatze ein Ohr abbeißt. Er ist aber nicht mehr Kater Eugen, wenn ihm die Nachbardogge das Genick gebrochen hat. Sein rechtes Ohr ist nicht existentiell für seine Identität, seine Vitalität sehr wohl.

Oder: Mein Freund Hans bleibt mein Freund Hans, auch wenn er bei einem Unfall ein Bein verloren hat. Wird er aber noch mein Freund Hans sein, wenn ihm eine Geisteskrankheit seine Persönlichkeit, sein Gedächtnis geraubt hat?

Was macht den Eugen zum Eugen, den Hans zum Hans? Gar nicht so einfach, eine Grenze zu ziehen: Welche konkreten Eigenschaften gehören zur Identität und welche nicht?

Die Philosophie drückt das so aus: Was ist essentiell am Menschen, was rudimentär? Gibt es eine unveränderliche Essenz des Menschen? Die philosophische Diskussion darüber ist so alt, wie die Philosophie selber. Und dann der ewige Ärger mit den Veränderungen? Der griechische Heraklit sagte deshalb zu Recht: „Du kannst nicht zweimal in denselben Fluss steigen!“ Und seine Kollegen fragten sich: Wenn an einem Boot nach und nach alle Planken ausgetauscht wurden, ist das noch dasselbe Boot oder ein anderes?

Was für ein schlichtes Boot gilt, gilt auch für unseren Körper. Ständig wechseln sich fast alle unsere Körperzellen aus. Tun sie das nicht, sind wir tot. Sind wir dann aber noch derselbe, der wir vor fünf Jahren gewesen sind? Schwer zu sagen! Identitätsfindung ist einem nicht ein für allemal gegeben, sondern schöpferischer Prozess und Lebensleistung. Sie ist oftmals Ergebnis zweier Prozesse: Selbsterkenntnis und Selbstgestaltung. Selbstverständlich werden wir in unserer Identitätssuche auch von äußeren Faktoren geprägt.

Erziehung, Sprache, Familie, Jugendgruppe, nur wenige Faktoren von vielen. Und doch kommt unweigerlich der Zeitpunkt, an dem jeder von selbst aktiv werden muss. Das kann unwillkürlich geschehen. Kinder gewinnen ihre neue Identität erst, wenn sie sich von ihrer alten – nämlich der symbiotischen Mutter-Kind-Einheit – lösen lernen. Tun sie es nicht, kann ihre Identitätsbildung scheitern. Was für das Kind gilt, gilt auch für den Erwachsenen. Glückt ihm das Werk, wird er mit einer konsistenten, bruchlosen Biographie belohnt. Eine Kontinuitätsleistung, die Lebensorientierung, Handlungssicherheit und Selbstwertgefühl bieten kann. Glückt sie ihm nicht, drohen Identitätskrise und Identitätsverlust.

Freilich, Wandel macht Mühe! Und – Wandel macht Angst! In der Regel versucht derjenige, der eine Identität entwickelt hat, möglichst lange daran festzuhalten, sie allenfalls zu erweitern. Identitätskonflikte lieben wir auch nicht gerade. Je komplexer unsere Gesellschaften aber werden, desto häufiger konkurrieren unsere Identitätsvorstellungen.
Jede Frau, die Familie und Beruf, Haushalt und Erotik unter ein Dach bringen möchte, weiß ein Lied davon zu singen. Jeder Hausmann übrigens auch! Wer nicht gerade zum Autismus neigt, für den kommt es früher oder später zur Erkenntnis: Hoppla, andere Menschen entwickeln andere Identitäten. Jetzt kommt es zur Nagelprobe. Macht mir diese Erkenntnis so viel Angst, dass ich mit Gewalt dagegen vorgehen muss oder kann ich in einen Dialog treten, der meine Bedürfnisse und die des anderen gleichermaßen zulässt oder zumindest zum Ausgleich bringt?

Eine gelingende, eigene Identitätsfindung ist meist das Ergebnis kreativer Interaktions- und Empathieprozesse. Einfacher gesagt: Auf andere Lebensentwürfe neugierig sein, sich mit anderen Menschen auseinandersetzen, in sich und auf andere hören – dann klappt das auch mit der eigenen Identität.

Fazit I: Eine lebensgeschichtlich angemessene, flexible und tolerante Identität gehören zur seelischen Gesundheit. Eine starre, unwandelbare und intolerante Identität richten Schaden an – bei sich und bei anderen! Eine reife Identität ist eine Identität, die sich selbst und ihr ständiges Werden kritisch reflektiert.

 

Auch Gruppen haben Identitäten

Was nun für den Einzelnen gesagt wurde, gilt – pars pro toto – grundsätzlich auch für jede Gruppe. Die Sozialpsychologen sagen, Gruppenidentität sei die „Gesamtheit der Eigenschaften, die eine soziale Gruppe von anderen unterscheidet“. Ein Einzelner kann also Alleinstellungsmerkmale für sich in Anspruch nehmen, eine soziale Gruppe auch. Warum wir allerdings immer zuerst das Trennende, Alleinstellende, Abgrenzende in Betracht ziehen, ist zumindest eigenartig und der Nachfrage wert. Vielleicht liegt es ja an unsere Erfahrungen im Wirtschaftsleben, wo sich die Verkaufspsychologen um das so genannte „Alleinstellungsmerkmal“ bemühen, mit dem sich ein Produkt signifikant von den Produkten anderer Wettbewerber abhebt und so sich so einen veritablen Marktvorteil erarbeitet.

Dass sich soziale Gruppen vielfach erst durch Abgrenzung von anderen definieren, weiß jeder, der je in einer Partei, einem Verband, einem Verein, einer Jugendgruppe war. Von Rockergruppen, Fan-Clubs und Tupperwaren-Parties mal ganz zu schweigen. Da muss sich die mühsam zurechtgezimmerte Selbst-Identität ganz schön der Gruppen-Identität beugen, wenn man nicht als Nestbeschmutzer gemobbt werden will!
Fast jeder von uns erlebt Identitätskonflikte. Der wiederverheiratet Geschiedene etwa, dessen persönliche Identität nun nicht mehr zur definierten Gruppenidentität seiner Kirche passt. Der zum Personalchef erhobene Angestellte, der plötzlich andere Entscheidungen treffen als die, die er als Betriebsrat gefordert hat. Das türkische Mädchen, das in seiner Herkunftsfamilie ein völlig anderes Frauenbild vorfindet als der deutschen Schule. Ausnahmen bestätigen bekanntlich die Regel. Wer freiwillig, bewusst und reflektiert alte Identitäten aufgibt, kommt eher damit klar. Frauen, dich sich nicht mehr dem alten Hausfrauendiktat unterwerfen wollen, etwa. Oder Männer, die sich auf ein Jahr Familienzeit freuen.

Fazit II: Auch Gruppen haben Identitäten. Sie können ihre Mitglieder damit stärken, aber auch in Konflikte stürzen. Gruppen sollten immer wieder darüber nachdenken, ob ihre Normen der Gesamtgesellschaft dienlich sind oder nur ideologischer Selbstzweck sind. Dann sollte man bereit sein, seine bisherige Identität in Frage stellen oder zumindest erweitern. Ein Prinzip der Evolution, das unabdingbar zum Überleben der Menschheit beigetragen hat.

 

Nationale Identität – gefährliche Ideologie oder gelebte Wirklichkeit?

Am schwierigsten wird die Frage der Identität in nationalen Zusammenhängen. In Kenntnis der Zufälligkeit, des politischen Kalküls, in dessen Umfeld sich Nationen in der Geschichte entwickelt haben, scheint die Frage gerechtfertigt, ob einem abstrakten Gebäude wie einer Nation eine identitätsstiftende Funktion zugemessen werden sollte. „Ich liebe meine Frau, nicht den Staat!“ soll der frühere Bundespräsident Gustav Heinemann gesagt haben. Auf der anderen Seite wäre es naiv, den nationalen Gefühlen zahlreicher Menschen zu wenig Aufmerksamkeit zu schenken.

Identitätspolitik wird von verschiedenen Seiten aktiv betrieben. Dominante Gruppen instrumentalisieren Phänomene wie Religion, Bräuche, Weltanschauungen, Sport oder Unterhaltung, um die von ihnen definierte staatliche Identität zu befördern. In gleicher Weise betreiben die von ihnen dominierten Gruppen Identitätspolitik, um sich von der Gesamtgruppe zu emanzipieren und eine eigene alternative Identität zu erlangen, z.B. durch Schaffung von Subkulturen, Gettos und alternativen Szenen.

Nationen sind politische Konstrukte, die bestenfalls funktionieren, zunächst aber nicht Objekte von Heimatliebe und emotionaler Zuneigung sind. Wer, zumindest an den Grenzen einer Nation, dazugehört oder nicht, war immer dem historischen Zufall überlassen. Nicht zufällig hingegen sind die Effekte, die eine Nation generieren kann: Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit, Demokratie und Minderheitenschutz, Gleichberechtigung und Menschenrechte, Toleranz und Inklusion, Friedfertigkeit und Wehrhaftigkeit, innere Sicherheit und sozialer Friede. Diese Effekte dürfen durchaus als identitätsstiftend gelten, auf sie darf man stolz sein. Vielleicht darf man sie auch lieben, zumindest muss man sie schützen wie zarte, verletzliche Pflanzen. Wenn eine Nation nicht die Kraft aufbringt, diese Effekte der Humanität zu generieren, dann darf sie sich nicht wundern, dass ihre Identität schwindet, und sie ihre Mitglieder nur mehr durch Mauern und Foltergefängnisse bei der Stange halten kann.

Fazit III: Staaten und Nationen eine Identität zuzugestehen scheint unhistorisch und in Blick auf die Geschichte des Nationalismus höchst problematisch. Übertriebene Nationalidentitäten stellen eine Gefahr für alle Nachbarn dar. Humanitäre Effekte, die Staaten und Nationen hervorbringen sind hingegen fundamental für die Identitätsbildung des Einzelnen.

Interpretation und Bewertung dieser Effekte werden im Diskurs der betroffenen Gesellschaften vorgenommen. Ein Diskurs, der in jedem Fall gewährleistet sein muss. Ohne offene, informierte und freie Diskussion sind kein gesellschaftlicher Fortschritt und keine wirkliche Identifikation mit einer Nation denkbar. Leitplanken dieses Diskurses sind grundsätzlichen, irreversiblen humanitären Errungenschaften wie Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit, aber auch die Akzeptanz permanenten gesellschaftlichen Wandels. Es wird zu den großen humanitären Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gehören, das Bedürfnis vieler Menschen nach heimatlicher, geschlossener Identität mit einer globalen, kosmopolitischen Offenheit versöhnen zu können.

 

Editorische Notiz zur Reihe „Gedanken aus Dachau“

Solange es eine zivilisierte Menschheit gibt, wird der Name „Dachau“ mit seinem 1933 bis 1945 von den Nationalsozialisten betriebenen Konzentrationslager im kollektiven Gedächtnis als Symbol der Menschenverachtung belegt bleiben. Das Bemühen vieler, die Stadt heute als Lernort gegen totalitäre Gewalt zu etablieren, verdient allen Respekt und jegliche Unterstützung. Neben einer akribischen Geschichtsaufarbeitung sollten von solch einem Lernort auch Impulse der gegenwärtigen Menschenrechts- und Demokratiedebatte ausgehen.
Für dieses Anliegen möchte die vorliegende Reihe „Gedanken aus Dachau“ einen kleinen Beitrag leisten. Die Texte von Norbert Göttler verstehen sich als komprimierte Arbeits- und Argumentationshilfen sowie als Inspiration zum Weiterdenken.

Dr. phil. Norbert Göttler, 1959 in Dachau geboren, studierte in München Philosophie, Theologie und Geschichte. 1988 wurde er im Fach Sozial- und Wirtschaftsgeschichte promoviert. Er arbeitet als Publizist, Fernsehregisseur und Schriftsteller. Göttler ist Mitglied des deutschen PEN-Zentrums und Vize-Dekan an der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Von 2011 bis 2023 war er Bezirksheimatpfleger von Oberbayern. 2004 wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet.