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DAS SCHWEIGEN DER GREISIN

Norbert Göttler
DAS SCHWEIGEN DER GREISIN

Mit einem unterdrückten Ächzen kletterte Father McJones die letzten Sprossen der Leiter herab und warf den Hammer, den er in den Gürtel seiner Soutane gesteckt hatte, auf den morastigen Boden. Zwischen den Lippen hielt er zwei, drei große Zimmermannsnägel, als er nun umständlich ein Taschentuch aus dem Ärmel zog und sich mit ihm den Schweiß von der Stirn wischte. Unwillig blickte er auf das Dach der kleinen, schiefergrauen Kapelle. An vielen Stellen war es notdürftig geflickt, einige Schindeln waren erneuert und die größten Löcher mit Brettern vernagelt worden. Aber es war eine Sisyphusarbeit. Kein Monat verging, ohne dass McJones neue Wasserpfützen auf den ausgetretenen Granitfliesen des Gotteshauses bemerkte und sich leise fluchend auf die Suche nach seinem Werkzeug machen musste. Jeder verdammte Sturm, der sich in der Weite des Atlantiks zusammenbraute, um dann tagelang Über das schottische Hochland zu fegen, riss gnadenlos neue Löcher in das morsche Holz. McJones runzelte die Stirn. War das Dach vor dem letzten Orkan auch schon so schief gewesen? Je länger er in die Höhe starrte, umso mehr gelangte er zur Überzeugung, dass schon einige kräftige Böen genügen würden, um den ganzen Dachstuhl aus seiner Verankerung zu heben und die Balken mit lautem Krachen über dem Kirchengestühl zusammenbrechen zu lassen. Keine zwei Tage, und jeder Span des Bauholzes wäre in den Kanonenöfen der umliegenden Häuser verheizt, zurückbleiben würden lediglich nackte Granitmauern, die langsam Moos ansetzen und im Sommer den Eidechsen und Blindschleichen als Lebensraum dienen würden. Wieviel Hunderte solcher Ruinen gab es nicht hier im Hochland? Der Geistliche seufzte und zuckte mit den Schultern. Es war ihm klar, dass dann das Ende seiner Tätigkeit hier gekommen sein würde. Weder das ferne Bischofsamt in der Stadt, noch diese schrulligen Dorfbewohner würden auch nur ein halbes Pfund zum Wiederaufbau der Kirche beisteuern. Wozu auch? Sie betraten sie ohnehin kaum, hatten sie den modrig-kühlen Raum doch vor der überraschenden Ankunft des neuen Pfarrers gar als Kartoffelkeller und Hundezwinger genutzt! McJones blickte missmutig auf die Häuser des Dorfes. Diese späten Wintertage, die die Wege und Plätze in einen abgrundtiefen, stinkenden Morast verwandelten, ließen sie alle gleich elend erscheinen. Hohe Bäume gab es hier oben nicht, und so duckten sich die Hütten hinter verkrüppelte Kiefern und halbeingefallene Steinmauern. Einige von ihnen waren noch mit fauligem Schilfstroh gedeckt. Keine Menschenseele war zu sehen. Das gottverlassene Nest mochte einmal hundert oder zweihundert Einwohner gezählt haben, die von der Schafzucht lebten oder den kargen Hängen in mühsamer Handarbeit Kartoffeln abrangen. Aber als dann die Gerüchte vom industriellen Aufschwung des Tieflandes in die bis dahin unendlich einsamen Hochtäler drangen, hatte jeder, der auch nur einen Funken Überlebenswillen in sich verspürte, sein karges Paket geschnürt und sich grußlos davongemacht. Kaum einer kehrte jemals zurück. Die wenigen, die es tatsächlich zu bescheidenem Wohlstand brachten, schämten sich ihrer armseligen Heimat, andere hatten weder Geld noch Zeit für nutzlose Reisen in die Vergangenheit. Ganz zu schweigen von jenen, die schon wenige Jahre später auf den trostlosen Friedhöfen ihrer Fabriksiedlung lagen, oder (immerhin besser!) in der unendlichen Weite des Ozeans ein Seemannsgrab gefunden hatten.

Heute lebten hier im Dorf nur mehr einige Dutzend Menschen, spintisierende, zahnlose, uralte Greise, die kaum jemals ihre rußgeschwärzten Hütten verließen. McJones rätselte seit seiner Ankunft, wovon sie leben mochten. Die wenigen, kärglichen Kartoffelgärten konnten unmöglich genügen, und die fünf, sechs Schafe und Ziegen, die in den Gassen wild umherstreunten, waren so dürr, dass er Sorge hatte, ob sie den nächsten Winter noch überstehen würden. Seelsorge! Seit Jahrzehnten hatten sie hier oben keinen Geistlichen mehr gesehen. Weiß Gott, was in den Bischof gefahren war, als er Father McJones zu sich gerufen hatte, um mit ihm seine Pläne, im Hochland alte Pfarrstellen wiederzubesetzen, zu besprechen. McJones atmete tief durch. Er wusste, dass schon der Begriff Seelsorge in diesem Dorf einen Euphemismus darstellte. Ein knappes Jahr war vergangen, seit Father McJones sein Fahrrad erstmals den Feldweg das Hochtal heraufgeschoben hatte – und noch immer hatte er mit keinem der Dorfbewohner einen vernünftigen Satz gesprochen! Sie beendeten sofort ihre Gespräche, wenn sie seiner ansichtig wurden, und verschwanden in ihren Hütten, wenn er auf sie zuging. Und selbst, wenn er sie so verstohlen überraschte, dass sie sein Lauschen nicht bemerkten, verstand er kein Wort ihres gälischen Dialektes. Anfänglich hatte er manchmal an eine der Türen geklopft, war in die niedere Stube getreten und hatte den überraschten Bewohner angeredet. Doch welche Fragen er auch stellte, sein Gegenüber blickte durch ihn hindurch, als sei er Luft. Kleine Geschenke wurden zwar angenommen, aber nicht benutzt. Die Wollhandschuhe, die er einer spindeldürren Alten im Herbst auf den Stubentisch gelegt hatte, lagen seit einem halben Jahr unberührt dort, obwohl dieser Winter das Dorf mit einer mächtigen Schneeschicht überzogen hatte und der Sturm eiskalt durch die Ritzen der undichten Fenster pfiff. In diesem Ort verpuffte jede Art von missionarischer Initiative. Nicht, dass ihn die Menschen hier aus irgendeinem Grund zu hassen schienen, oder dass es in der Vergangenheit einen Grund zu Kirchenfeindschaft und Auflehnung gegeben hätte. Nein, diese Autochthonen schienen einfach nicht zu begreifen, was der Fremde eigentlich von ihnen wollte, der da allmorgendlich in seltsamen Gewändern den kurzen Weg vom Pfarrhaus zur Kirche hinüberschritt, um dort in völliger Einsamkeit die Liturgie zu feiern. Anfänglich hatte McJones, den Rat eines welterfahrenen Missionars befolgend, auf die menschliche Tugend der Neugierde gesetzt. Er hatte einen notdürftigen Altar vor der Kapelle errichtet, die wenigen, unversehrten Heiligenbilder aus dem Pfarrhaus davor aufgestellt und in einer Blechschüssel fast seinen gesamten Vorrat an Weihrauch entzündet, sodass der liturgische Rauch wie Abendnebel zwischen den Mauern und Zäunen des Dorfes hing. Daraufhin hatte er zwei Stunden lang bis zur völligen Heiserkeit gregorianische Choräle intoniert und über das Leben des Heiligen Franz Xaver in die gespenstische Leere hinein gepredigt. Zunächst hatte er gemeint, aus den Augenwinkeln heraus mehrere Dorfbewohner erkennen zu können, die mit verblüffter Miene vor ihre Häuser traten und das seltsame Schauspiel beobachteten. Nach einiger Zeit aber waren die Straßen so menschenleer wie eh und je, und McJones musste seinen Versuch erschöpft abbrechen.

Einen kleinen Einblick in die metaphysische Befindlichkeit seiner Schützlinge gewann McJones erst nach längerer Zeit seiner Anwesenheit. Wie es ihm zur Gewohnheit geworden war, hatte er sich beim Morgengrauen des ersten Tags des Monats auf den Weg gemacht, um mit dem Fahrrad den schmalen Weg ins Tal hinunterzufahren, wo er den Bus in die fünfzig Kilometer entfernte Kreisstadt nehmen konnte. Erst kurz vor Einbruch der Dunkelheit war er zurückgekehrt und schob heftig schnaufend – sein Rucksack war mit Büchern und Lebensmitteln prall gefüllt – das Fahrrad durch den kargen Kiefernwald, der sich talwärts an das Dorf anschloss. Plötzlich stutzte er. Hatten sich dort in der Lichtung nicht zwei Gestalten bewegt? Er kniff die Augen zusammen und verschärfte damit seine Sehkraft. Tatsächlich, nach längerem Hinsehen konnte er zwei Frauen aus dem Dorf erkennen. Sie schlurften in gebückter Haltung am Waldrand entlang, als suchten sie etwas. Eine der beiden Alten hielt einen primitiven Weidenkorb in Händen. Hin und wieder schienen sie etwas gefunden zu haben. Dann knieten sie auf den Boden, steckten die Köpfe zusammen und legten etwas in ihren Korb. Misstrauisch schob McJones sein Fahrrad weiter. Noch nie hatte er um diese Zeit jemanden das Dorf verlassen sehen. Er beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. Zwanzig Meter weiter gab es eine Weggabelung, dort mussten die beiden vorübergehen, wenn sie zum Dorf zurück wollten. Und tatsächlich dauerte es nicht lange, da schienen die beiden Alten genug gesammelt zu haben und machten sich auf den Heimweg. McJones sah sie deutlich näherkommen. Sie trugen knöchellange, schwarze Gewänder aus grobem Sackleinen. Ihre Kopftücher, die bis weit über die Schultern reichten, hatten sie tief ins Gesicht gezogen. Als sie dicht an ihm vorübergingen, trat der Geistliche aus seinem Versteck und stellte sie zur Rede. Die beiden blieben zwar wie angewurzelt stehen, ihre Augen verrieten aber keine Spur von Überraschung oder Überrumpelung. Sie sagten kein Wort. Auch als er seine Frage, was sie denn um diese Zeit noch im Wald gesucht hätten, deutlich wiederholte, zeigten sie keine Reaktion. Jetzt wurde es ihm zu bunt! Energisch griff er nach dem Korb und stellte ihn auf die Erde. Ungeduldig schob er eine Schicht Ampferblätter beiseite, die den Inhalt des Korbes bedeckten und starrte hinein. Ein wirres Durcheinander von Wurzelstücken war das erste, was ihm auffiel. Brennmaterial? McJones überlegte. Nein, dafür waren die Teile zu unerheblich. Sie waren dünn und brüchig. Bei näherem Hinsehen konnte man jedoch erkennen, dass sie alle sorgfältig ausgewählt waren und offensichtlich von verschiedenen Baum- oder Straucharten stammten. Fast alle von ihnen hatten drei Enden, die in gleichem Winkel aus ihrer gemeinsamen Mitte hervortraten. Dasselbe Motiv fiel McJones auf einigen Steinen auf, die auf dem Boden des Korbes zum Vorschein kamen. Eine Handvoll pechschwarzer Rabenfedern vervollständigte den Inhalt des Behältnisses. McJones richtete sich auf. Einen Moment blickte er den Greisinnen verständnislos ins Gesicht. Aber langsam dämmerte es ihm. Diese gottverlassenen Alten hier glaubten an allen möglichen Zauber, nur nicht an die katholische Heilslehre! Das jahrzehntelange Fehlen christlicher Mission hatte sie in die Vorstellungswelt ihrer keltischen Vorfahren zurückfallen lassen! Weiß Gott für welche Rituale diese Utensilien des Aberglaubens gebraucht wurden? Missmutig packte McJones den Korb, leerte seinen Inhalt auf den Waldboden und trat einige Male mit den Füßen darauf. Dann reichte er den Alten den Korb, die sich, ohne ein Wort zu verlieren, umdrehten und davonmachten. Der Geistliche blickte ihnen nach, bis der aufkommende Bergnebel sie verschluckt hatte. Es war das einzige Mal, dass sich der Aberglaube der Dorfbewohner öffentlich manifestiert hatte. Seitdem war nichts Entsprechendes mehr vorgefallen. Aber Father McJones konnte sich des Verdachts nicht erwehren, dass die Greisinnen an ihrem esoterischen Treiben nicht irr geworden, sondern einfach nur eine Spur vorsichtiger geworden waren.

McJones, frommer Kleriker der katholischen Kirche Schottlands, seufzte abermals. Dann legte er die Leiter auf den Boden, suchte sein Werkzeug zusammen und hinkte langsam dem Pfarrhaus zu. Sein Weg führte ihn über den Gottesacker, der die baufällige Kirche umgab. Mehrere Dutzend Grabsteine standen da, über und über mit Moos und Flechten bewachsen, viele von ihnen schief in das weiche Erdreich gesunken. Die meisten der Grabstellen waren mit Steinplatten bedeckt, von denen nicht wenige von Frost und Regen zerbrochen waren und Blicke in die finstere Gruft zuließen. McJones bekreuzigte sich und versuchte, die Inschrift eines Steines zu entziffern, indem er mit der flachen Seite seines Hammers den Moosbewuchs abschabte. Es gelang ihm nicht. So wie er die Dinge beurteilte, war in dieser geweihten Erde seit Jahrzehnten niemand mehr begraben worden. Keine einzige Grabstelle, die irgendwelche Spuren eines Begräbnisses oder einer Totenverehrung aufwies! Es war dem Geistlichen längst aufgefallen, dass auch in dem Jahr, in dem er jetzt hier war, kein einziger Todesfall vorgekommen war. Und das, obwohl fast alle Einwohner über achtzig Jahre waren, manche vielleicht gar neunzig und darüber! McJones hielt an einem völlig vermoosten Grabstein inne und überlegte. Seit dem Vorkommnis im Wald war ihm schon bisweilen der Verdacht gekommen, diese Nachfahren keltischer Zauberer und Kräuterweiber hätten einen eigenen Ritus entwickelt, ihre Toten zu begraben. Er konnte die wenigen Nachbarn des Pfarrhauses, die sich überhaupt noch auf der Straße blicken ließen, immer noch nicht zweifelsfrei identifizieren, aber manche Gesichter, die ihm anfänglich aufgefallen waren, hatte er bestimmt seit mehreren Monaten nicht mehr gesehen. Auch war die Zahl derer, die er verstohlen von seinem Fenster aus beobachten konnte, früher eindeutig größer gewesen als heute. Er fröstelte. Vielleicht waren tatsächlich einige von ihnen mittlerweile gestorben? Vielleicht begruben sie ihre Toten in nächtlichen Zeremonien, weiß Gott wo! Vielleicht mitten im Wald? Oder in den dunklen Ecken ihrer verlassenen Ziegenställe? Und er, der katholische Pfarrer, lebte fremd und sprachlos unter diesen Heiden, ohne auch nur die Spur einer Ahnung davon zu haben, was um ihn herum geschah! Wenn das Jahr vorüber war, so dachte er bitter, würde er den Bischof um Versetzung bitten! Sollten sich andere mit diesen fossilen Kreaturen herumärgern, wenn es ihnen Spaß machte. Er hatte genug davon, außerdem war das unwirtliche Bergklima hier oben seiner Gesundheit alles andere als bekömmlich.

Vorsichtig setzte McJones Fuß um Fuß auf die schmelzenden Eisplatten, die als letzte Überreste eines nasskalten und stürmischen Winters den Weg zwischen Gottesacker und Pfarrhaus bedeckten. Tagtäglich ging er mehrmals hier vorüber, zwei der armseligsten Taglöhnershütten zur Linken liegen lassend. Das eine der beiden Gebäude war schon vollkommen eingefallen, die Fensterscheiben waren gesprungen, und aus den Löchern im Dach wuchs ein hartblättriges Gesträuch. Das andere aber schien noch bewohnt zu sein. Vor Monaten hatte McJones einige Male an der Klinke gerüttelt, aber die Türe war verschlossen geblieben. Niemand war gekommen, um zu öffnen. Jetzt aber, während des Winters, war öfters ein dünner Faden Rauchs aus dem Kamin gestiegen und ein flackernder Schein hinter den Fenstern deutete darauf hin, dass sich jemand eine Kerze oder eine Petroleumlampe amgezündet hatte. Auch jetzt war wieder dieser schwache Lichtschimmer zu bemerken. Mehr aus Langeweile als aus Neugierde trat McJones einige Schritte näher und spähte durch eines der winzigen, fast blinden Fenster. Zunächst konnte er überhaupt nichts erkennen. Immer noch waren die Scheiben von bizarren Eisblumen bedeckt, an denen der Geistliche nun mit nackten Fingern zu kratzen begann. Als er einen kleinen Fleck freigelegt hatte, schaute er so angestrengt hindurch, dass seine Stirn das kalte Glas berührte. Das ganze Haus schien aus einem einzigen Raum zu bestehen. McJones erster Blick fiel auf einen verrußten Kamin, neben dem ein leeres Bett mit einem Strohsack stand. McJones kratzte weiter an der Scheibe und drehte den Kopf. Doch plötzlich wich er erschrocken zurück! „Mein Gott, sie ist tot!“ entfuhr es ihm halblaut. Sein Blick war auf ein gespenstisch bleiches Gesicht gefallen, das sich scharf von der Dunkelheit des Raumes abhob. Die Augen der alten Frau, die auf einem Stuhl mitten im Raum saß, blickten sinnlos ins Leere, ihr blutloser Mund war leicht geöffnet. Den Rest des Kopfes verdeckte ein pechschwarzes Kopftuch. Nach einem Moment des Zögerns ließ der Geistliche seinen Hammer in den Schnee fallen und rannte zu der niedrigen Haustüre. Dieses Mal ließ sie sich tatsächlich öffnen. Obwohl McJones in seinen vielen Berufsjahren einiges erlebt hatte, klopfte spürbar sein Herz, als er in die modrige Dunkelheit trat, die nur vom flackernden Licht einer kleinen Kerze durchbrochen wurde. Schritt für Schritt näherte er sich seitlich dem Stuhl, auf dem die Alte saß. Ihr Rücken war gekrümmt, doch hatte sie sich auch jetzt noch eine würdevolle Haltung bewahrt. Die spindeldürren Hände lagen auf ihren Knien. Die Gestalt verharrte vollkommen bewegungslos. Schließlich nahm McJones all seinen Mut zusammen, trat noch einen Schritt näher und blickte der Alten in die offenen Augen. Ihm stockte der Atem. Hatte er aus der ganzen Physiognomie dieser Gestalt überzeugend geschlossen, eine Verstorbene vor sich zu haben, so belehrte ihn das Funkeln dieser Augen eines Besseren! Nein, irgendetwas in diesem Menschen lebte noch! „Verzeihung, dass ich hier so eindringe“, murmelte McJones unsicher, „aber ich dachte…Kann ich dir irgendwie helfen, Mütterchen?“ Es entstand eine lange, bedrückende Pause. Die Alte reagierte auf keines seiner Worte, doch ihre Augen fixierten ihn unablässig. Dem Geistlichen war sehr unbehaglich zumute. Er hätte gerne den Puls der Alten gefühlt, wagte aber nicht, sie zu berühren. Erst jetzt fielen ihm auf dem schmalen Tisch neben der Alten zwei Utensilien auf, die seiner Aufmerksamkeit bisher entgangen waren. Das eine war eine große, dunkle Uhr, die sogar vernehmbar tickte. Und das andere war eine riesengroße, lachsfarbene Muschel! McJones runzelte die Stirn. Wie, zum Teufel, hatte dieses sonderbare Stück aus den Küstenregionen den Weg hier herauf in die Trostlosigkeit des Hochlands gefunden? Vielleicht das einzige Souvenir einer längst vergessenen Hochzeitsreise? Oder das Geschenk eines seefahrenden Enkels, der einstmals den Weg hierher gefunden hatte, dann aber, von der Armut entsetzt, das Weite gesucht hatte und nicht mehr zurückgekehrt war? Die Wahrheit würde nie mehr ans Tageslicht kommen. Die Geschichte dieses Reliktes gehörte ebenso einer längst vergangenen Welt an wie die Biographie dieser Alten, die nicht dem Reich des Todes, aber auch nicht mehr dem des Lebens anzugehören schien. „Hast du vielleicht Hunger? Ich…ich könnte dir ein wenig Suppe bringen?“ murmelte er jetzt, denn die sonderbaren Augen, die ihn ständig beobachteten, irritierten ihn. Die Alte rührte sich nicht und gab keinen Laut von sich. McJones wartete einen Moment, zeichnete dann mit zwei Fingern das flüchtige Zeichen eines Segens in die Luft und wandte sich dem einzigen Ausgang des Zimmers zu. „Es war mir, als könnte ich durch sie hindurchsehen!“ fuhr es ihm beim Hinausgehen durch den Kopf, aber nach einigen Schritten an der frischen Luft vergaß er diesen absurden Gedanken.

Eine Stunde später kehrte McJones tatsächlich mit einem Blechnapf voll dampfender Gemüsesuppe zurück. Nichts hatte sich verändert, seit er den Raum vorhin verlassen hatte. Er rückte die Uhr beiseite und stellte den Topf auf das Tischchen. Dann zog er aus seiner Soutane einen Löffel und legte ihn daneben. „So, das wird dir guttun“, sagte er tonlos. Mit einem Seitenblick beobachtete er die Reaktion der Alten. Nichts geschah. Er schob den Tisch so nahe an die Frau heran, dass sie den Topf erreichen konnte, wenn sie es wollte. „Ich…ich werde dich morgen wieder besuchen. Ich verspreche es dir!“ murmelte der Priester und rieb sich angesichts der Kälte im Raum die Hände. Mit gerunzelter Stirn starrte er auf die Alte. Plötzlich war es ihm wieder, als würde dieser ausgemergelte Körper, der da vor ihm auf dem altmodischen Stuhl saá, zunehmend durchsichtiger! Konnte er nicht deutlich die Umrisse der Stuhllehne erkennen, an dem sie lehnte? Oder den geflochtenen Boden, auf dem sie saß? McJones rieb sich die Augen. Verflucht nochmal! In diesem elenden Nest konnte ja die stärkste Natur irr werden! Er zwang sich, seinen Blick von der Alten zu reißen, und stolperte hinaus.

McJones verbrachte eine unruhige Nacht. Immer wieder fuhr er aus wirren Träumen und wälzte sich in den klammen Laken seines Bettes. Gegen Morgen hielt er es dann nicht mehr aus. Da ohnehin keine Besucher zu erwarten waren, tappte er bereits beim ersten Morgengrauen in die Kapelle hinüber, um die Frühmesse zu lesen. Hastig und gedankenverloren stammelte er die liturgischen Texte herunter und verließ bereits nach einer Viertelstunde die Kirche. Unverzüglich führte ihn sein Weg zur Hütte der Alten. In dem Raum war es angesichts des spärlichen Morgenlichts noch finsterer als gestern, aber McJones konnte deutlich die Umrisse der Alten sehen, die aufrecht und unbewegt auf ihrem Stuhl saß. Auch bemerkte er, dass der Blechnapf immer noch dort stand, wo er ihn gestern zurückgelassen hatte. Die Suppe war unberührt. „Warum hast du nichts gegessen, Mütterchen?“ fragte er zögernd und hob seinen Blick. Jäh wich er zurück. „Mein Gott, sie löst sich tatsächlich auf!“ entfuhr es jetzt seinen blutleeren Lippen. Gewiss, die Alte saß da wie gestern, doch das entsetzliche Phänomen ihrer zunehmenden Durchsichtigkeit hatte sich deutlich verstärkt! Es war, als blickte er nur mehr auf einen dunklen, spinnwebenhaften Schatten! Hatte sich sein Verstand gestern noch geweigert, dieses Phänomen zur Kenntnis zu nehmen, so konnte er heute seinen Blick nicht mehr von der zerbrechlichen Gestalt der Alten wenden. Der Priester spürte ein Zittern in seinen Gliedern, das nicht von der feuchten Kälte herrührte, die durch die undichten Fugen der Fenster hereinwehte. Während er mühsam nach den Worten eines spontanen Gebetes suchte, starrte er unablässig auf die Alte. Kein Zweifel, man konnte durch sie hindurchschauen! Man erkannte jede Einzelheit des Stuhles, den ihr Körper doch eigentlich verdecken musste. Man sah durch ihre Beine hindurch jede Ritze und jedes Astloch des ausgetretenen Bretterbodens! McJones schloss die Augen und öffnete sie wieder. An dem sonderbaren Phänomen hatte sich nichts verändert. Freilich meinte er jetzt Unterschiede in der Konsistenz der einzelnen Körperteile wahrnehmen zu können. Zweifellos, der Prozess der körperlichen Auflösung war nicht überall gleich weit gediehen. Er schien von oben nach unten zuzunehmen. Ja, von den Füßen der Alten war bereits kaum mehr zu erkennen als ein graubrauner Dunst. Nach oben hin jedoch gewannen ihre Konturen an Klarheit, die Schultern traten deutlich hervor, und die Farbe des Kopftuches hatte noch nichts an Intensität verloren. Gebannt starrte McJones in das Gesicht der Alten. Hier konnte er immer noch jedes Detail erkennen. Die eingefallenen Augen, die knochige Nase, sogar die streng gefurchten Linien ihrer Stirn. Und doch – irgendetwas war heute anders als gestern. Forschend und ungeniert studierte der Priester jetzt die Miene der unbewegten Frau. Je länger er so dastand, desto sicherer wurde er. Freilich, es war nur ein flüchtiger Eindruck, aber er war nicht zu übersehen: Die Alte lächelte ihn an! Ihre Augen glänzten, und über ihrem dünnen, zahnlosen Mund lag der Hauch eines Schmunzelns. McJones trat noch einen Schritt näher. War er von den makabren Verwandlungskünsten des nahen Todes getäuscht worden? Nein, es war nicht die sinnlos verzerrte Grimasse eines Leichnams, die ihm da entgegentrat, es war das feine und bewusste Lächeln einer höchst lebendigen Person! McJones versuchte sich eisern zur Ruhe zu zwingen. Was war in einer solchen Situation zu tun? Irgendjemand im Dorf zu unterrichten, war ein völlig sinnloses Unterfangen. Niemand hatte sich auf ein Gespräch eingelassen, geschweige denn, den Priester in die Hütte der Alten begleitet. Ärzte gab es hier oben weit und breit nicht. Schließlich besann er sich seines geistlichen Auftrags. Weiß der Teufel, was hier vorging! Ob die Alte im Sterben lag oder von einem sonderbaren Dämon besessen war, konnte er jetzt nicht beurteilen. Das einzige was er tun konnte war, ihr die Segnungen der christlichen Sakramente zu Teil werden zu lassen! Dieser Gedanke beflügelte ihn. Grußlos verließ er die Alte und rannte hinaus. Erstmals fiel sein Blick dabei auf einen großen Schlüssel, der außen an der Haustüre steckte. Er hätte niemandem erklären können, warum, aber nach kurzem Zögern griff er danach und drehte ihn herum. Mit einem ächzenden Geräusch sperrte das Schloss. Die wenigen Meter zum Pfarrhaus legte McJones mit weitausgreifenden Schritten zurück. Aufgeregt stürmte er in sein Schlafzimmer und suchte nach der kleinen Tasche mit den Utensilien des katholischen Sterbesakramentes, die er seit seiner Ankunft hier oben nie gebraucht hatte: eine winzige, silberne Dose mit geweihtem Salböl, ein schwarzes Sterbekruzifix und zwei Kerzen aus dem schottischen Wallfahrtsort St. Anthony. Nach dem Verlassen des Pfarrhauses blieb er nochmals stehen und blickte unschlüssig zur Kapelle hinüber. Sollte er auch noch das Weihrauchfass und das zerschlissene Buch der römischen Sterbeliturgie holen? Hastig zwang er sich zum Weitergehen. Nein, er musste sich beeilen, die rituellen Texte und Exorzismen würden ihm trotz der langen Zeit schon wieder einfallen. Nach wenigen Augenblicken hatte er die verfallene Hütte wieder erreicht. Der große Schlüssel knarrte rostig. Kurz bevor McJones eintrat, hielt er inne. Er versuchte seine innere Unruhe und sein rasendes Herz zu beruhigen, indem er die Augen schloss und leise einen Vers aus dem gregorianischen Choral anstimmte. Dann bekreuzigte er sich, drückte die Klinke herab und trat in den dunklen Raum. Wie immer schlug ihm dumpfer Moder entgegen. Nach wenigen Schritten blieb er stehen. Der Choral auf seinen Lippen wurde leiser und leiser und erstarb schließlich in einer mechanischen Bewegung seiner Lippen. Das Zimmer war menschenleer. Der altmodische Stuhl mit den gedrechselten Beinen stand einsam in seiner Mitte, niemand mehr saß darauf. Auf dem Tischchen daneben lag sinnlos die riesige, lachsfarbene Muschel. Die Uhr daneben tickte nicht mehr. Ihre Zeiger aber zeigten die Zeit einer fremden Welt an…