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DEUTSCHE BAROCKGEDICHTE

DEUTSCHE BAROCKGEDICHTE

25. Februar, weit nach Mitternacht
Ein Scherz! Es kann nur ein Scherz sein. Ein übler Scherz. Diese Leute wissen nicht, was sie anrichten. Haben nichts Besseres zu tun, als mit Albernheiten ihre Mitmenschen zu belästigen. Man sollte keinen weiteren Gedanken darauf verschwenden, sollte das Käseblatt mit dieser Annonce einfach zum Einheizen benutzen! Vorbei der Spuk. Aus und vorbei. Andererseits…Kann sich irgendjemand X-beliebiger so etwas aus den Fingern saugen? Die Angaben waren präzise. Kurz, aber knochentrocken. Ein Miniatur-Inserat, fast zum übersehen. „Verkaufe Inselbändchen Nr. 313/2, ‚Gedichte des deutschen Barock‘ gegen Höchstgebot. Zuschriften unter Chiffre.“ Ein teuflischer Scherz! Gut gemacht, das muss man zugeben. Aber als Profi darf man auf solche Machenschaften nicht hereinfallen. übrigens – der Oberinspektor Hillermeier ist Schuld an der ganzen Aufregung! Er hat mir diese Zeitung auf den Schreibtisch gelegt und die Annonce rot angestrichen. Sie, Herr Amtsrat, hat er gesagt, Sie sind doch auch so ein Büchernarr! Da unter der Rubrik Büchermarkt hat jemand ein Inserat aufgegeben. Wäre das nichts für Sie? Und ganz hinterfotzig geschaut hat er dabei, der Hillermeier! Ob vielleicht er selber…? Nein, dafür ist er bibliographisch zu beschränkt! Wetten, dass der außer dem Gödel’schen Kommentar zum Verwaltungsrecht noch kein Buch von vorne bis hinten zu Ende gelesen hat! Den kleinen Ratgeber für den Dackelbesitzer vielleicht gerade noch, zugestanden. Aber meinen könnte man es schon manchmal, dass er einem auf diese Weise einen Herzinfarkt anhängen wollte, um dann die freie Planstelle…Aber lassen wir das Beamtengezänk! Im Grunde ist es lächerlich! Wegen einer solchen Lappalie sich den Kopf zu zerbrechen. Ein kleines Büchlein. `Deutsche Barockgedichte‘. Inhaltlich im Grunde unbedeutend. Abgesehen davon, dass mir Lyrik ohnehin ein Gräuel ist. Aber darauf legen es diese Leute ja geradezu an, dass man sich aufregt! Ich habe mich heute nach dem Mittagessen beim Büroleiter abgemeldet. Ich fühlte mich unpässlich.

26. Februar, 23 Uhr
Der Buchhändler Deininger ist ein Kamel! Hält sich für einen bedeutenden Antiquar, bloß weil er in einem seiner hintersten Schaufenster ein paar verstaubte Ladenhüter aus dem 19.Jahrhundert feilbietet. Als ich ihn heute zufällig traf und wir ganz nebenbei auf die `Deutschen Barockgedichte` zu sprechen kamen, kannte er den Band nicht einmal! Gelangweilt blätterte er in einem seiner Kataloge, erklärte die Auflage von 1943 wichtigtuerisch für vergriffen, bot mir aber ein Reprint an. Garantiert gleicher Inhalt, Paperback zu sieben Euro und neunzig Cent, lieferbar innerhalb von vierundzwanzig Stunden. Nur die Tatsache, dass bereits mehrere Kunden hinter mir unruhig hüstelten, hinderte mich, handgreiflich zu werden. Reprint? Reprint?? Ob er die Wahrheit ertragen könne, schrie ich ihn an. Ob er nicht wisse, dass die gesamte noch druckfrische erste Auflage der Barockgedichte im Jahr 1943 einem Bombenangriff der Amerikaner zum Opfer gefallen ist? Fünftausend Stück! Ob er nicht wisse, dass nur wenige Stunden davor der Verleger einige Belegexemplare den Kisten entnommen hat und sie damit der erbarmungslosen Vernichtung entrissen hat? Was? Wie viele er entnommen hat? Das weiß der Himmel. Drei, vier, fünf? Gewiss nicht viel mehr. Ob er sich des Weiteren nicht vorstellen könne, rief ich, dass diese paar Exemplare heute zu den meistgesuchten Sammlerstücken unter Bücherfreunden zählen, für die schon vor Jahrzehnten enorme Preise bezahlt wurden? Nein, natürlich – er kann nicht! Wie sollte er auch? Er will ja schließlich Paperbacks verkaufen. Krämerseele! Einen Reprint der Barockgedichte will er mir andrehen! Jetzt, wo eine Erstausgabe angeboten wird! Seit über zwanzig Jahren warten Dutzende von Sammlern auf diesen Augenblick wie eine Herde von Wasserbüffeln auf das Hereinbrechen der Regenzeit. Aber natürlich, es kann sich nur um einen Scherz handeln. Wer verkauft schon sein Inselbändchen Numero 313/2 ? Grollend gingen wir auseinander. Ich werde mir einen neuen Buchhändler suchen müssen. Ich werde wieder nicht schlafen können…

27.Februar, 22 Uhr
Strahlender Wintertag. Einkäufe erledigt, dann lange im Stadtpark spazieren gegangen. Keine besonderen Vorkommnisse. Übrigens: Ich habe an die bewusste Zeitung geschrieben. Unter der angegebenen Chiffre. Natürlich wird niemand antworten. Das Ganze ist ein Ulk. Das merkt jeder. Aber warum soll man den Leuten ihre Freude nicht vergönnen?

4.März, 23.30 Uhr
Jetzt treiben sie es aber zu bunt! Der angebliche Besitzer der `Deutschen Barockgedichte‘ hat zurück geschrieben! Anonym. Mit ausgeschnittenen Zeitungsbuchstaben. „BRIEF ERHALTEN. ERWARTE GEBOT UNTER CHIFFRE. KEINE POLIZEI!“ Man stelle sich das vor, ein regelrechter Erpresserbrief! Und das Tollste: beigelegt eine Fotokopie der ersten paar Seiten des Bändchens! Ich muss gestehen, dass mich die Angelegenheit doch aus der Ruhe bringt. Ich habe ein paar Tage Urlaub genommen.

5.März
Eigentlich lächerlich, aber ich habe eine Liste zusammengestellt. Eine Liste aller Büchersammler, die meines Wissens im Besitz eines Inselbändchens Nr.313/2 sind. War kein Problem, exzessive Bibliomanen kennen einander. Fazit: Es kommen nur vier Leute in Betracht! Da ist zum einen der schon betagte Arzt Friedrich Schulz-Moormann aus Frankfurt. Im Grunde unvorstellbar, dass der hinter der Sache steckt! Seinen Lebensabend, so pflegt er zu sagen, vergälle ihm allein der Gedanke, dass nach seinem Tode die mühsam zusammengetragene Bibliothek in fremde Hände falle. Ich habe einige Monate nichts von ihm gehört. Was, wenn er überraschend verstorben ist und die nichtsnutzigen Erben tatsächlich…? Oder der Architekt Grünschnabel, dieser Parvenu? Der reist die Hälfte des Jahres durch Europa, kauft auf den Auktionen alles zusammen, was rar und teuer ist, und treibt damit die Preise in Schwindel erregende Höhen. Nur um dann damit protzen zu können. Dieser Lackaffe! Aber der würde die Barockgedichte nie und nimmer herausrücken. Nein, auch Grünschnabel kommt nicht in Betracht. Es bleiben also noch zwei Kandidaten. Da wäre die gleichermaßen durchtriebene wie unverheiratete Antiquarin Chrysantheme Fingerle. Auch sie würde einen Verkauf nicht ernsthaft in Erwägung ziehen, aber – und bei diesem Gedanken verkrampft sich mein Innerstes – es ist nicht auszuschließen, dass sie die Urheberin der Annonce ist, nur um den momentanen Marktwert der Deutschen Barockgedichte zu ermitteln! Sie war mir immer suspekt, die Dame Chrysantheme! Mein stärkster Verdacht aber fällt auf den Lyriker Dr. phil. Jürgen Beckstein, der zwar ein geistreicher und angenehmer Sammlerkollege ist, dessen Schreibkunst ihren Mann aber kaum ernährt, so dass er im Lauf der Jahre immer mehr auf den Hund gekommen ist. Gut möglich, dass er vor dem nackten Bankrott steht und sich gezwungen sieht, sich von teuren Einzelstücken seiner Sammlung zu trennen. Was also tun? Ich kann keinen vernünftigen Gedanken fassen. Mein Arzt sagt, ich solle einige Tage verreisen. Vielleicht hat er Recht.

10. März, weit nach Mitternacht
Zurück von der Reise. Leider ergebnislos. Habe alle vier Verdächtigen aufgesucht. Meiner Meinung nach scheiden sie als Übeltäter aus. Schulz-Moormann erfreut sich bester Gesundheit, Grünschnabel befindet sich seit Monaten auf einer Weltreise, der ehemalige Lyriker Beckstein verdient als Werbetexter neuerdings ein Vermögen, und das Exemplar meiner lieben Freundin Chrysantheme Fingerle hat – ich verhehle nicht ein gesetztes Maß an Schadenfreude – ihre dänische Dogge aufgefressen. Unter Tränen zeigte sie mir den kümmerlichen Rest, einige von kräftigen Eckzähnen perforierte Papierfetzen. Den Köter hat sie übrigens erschießen lassen. Angemessen, finde ich. Ich bin also so weit wie vor einer Woche. Es muss einen fünften, bisher unbekannten Besitzer des Inselbändchens Nr.313/2 geben! Das Jagdfieber hat mich gepackt. Nur jetzt den Kontakt nicht abreißen lassen.

12. März, 22 Uhr
Ich habe ein Gebot abgegeben. Nur so zum Spaß. Fünfzigtausend. Ja wirklich, fünfzigtausend. Absolut überzogen. Aber das wird ihn umwerfen, den großen Unbekannten. Ihn aus der Reserve locken. Ich verlasse die Wohnung nicht mehr. Er wird über kurz oder lang anrufen oder morgen früh vor meiner Wohnungstür stehen. Dann muss er Farbe bekennen!

26. März
Diese Ungewissheit! Seit zwei Wochen keine Nachricht. Es wird doch nicht ein anderer mehr geboten haben? Vielleicht hätte ich doch hunderttausend…

29. März
Ein neuer Kontakt! Wieder anonym, wieder aufgeklebte Zeitungsbuchstaben. Ich bin noch ganz aufgeregt. Offenbar hat meine Offerte die Konkurrenz aus dem Feld geschlagen. Der Unbekannte bietet mir das Büchlein exklusiv an. Aber zu welchem Preis! Eine Viertel Million! Ein Phantast! Ein Wahnsinniger! Ich werde diesen Unfug einfach vergessen.

30.März
Mit Bankdirektor Neuhauser über einen Kredit verhandelt. Für alle Fälle.

4.April, zwei Uhr Nachts
Seit Stunden sitze ich schon an der Formulierung eines Antwortbriefes. Soll ich ihn bitten? Ihm drohen? Um Bedenkzeit bitten? Auf das Gefühl setzen oder den kühlen Geschäftsmann spielen? Oder vielleicht pokern und gar nicht mehr schreiben? Ich kann keine Briefe an anonyme Gegenüber schreiben. Der Papierkorb quillt über.

10. April
Unerhört! Er hat seine Forderung hinaufgeschraubt. Verlangt jetzt dreihunderttausend! Die Summe werde sich von Woche zu Woche um fünfzigtausend erhöhen, schreibt er. Jetzt wird mir die Sache aber zu bunt! Ich lasse mich nicht unter Druck setzen! Ich habe ihm geschrieben, dass er ein dreckiger, mieser, kleiner Erpresser ist. Ein hemmungsloser Triebtäter. Dass er sich seine Barockgerichte weiß Gott wohin stecken kann. Dass…

20.April
Ich bin völlig verzweifelt! Der Erpresser meldet sich nicht mehr! Die Zeitungsleute schicken meine Eilsendungen zurück. Sie sagen, die Chiffre-Nummer sei aufgelöst. Ich habe sofort eine Annonce in allen deutschen Tageszeitungen aufgegeben. BITTE UM NEUEN KONTAKT IN SACHEN BAROCKGEDICHTE. BIN ZU ALLEN ZUGESTÄNDNISSEN BEREIT.
KEINE POLIZEI. Großformatig. Fettdruck. Über eine ehemalige Freundin konnte ich sogar erreichen, dass eine entsprechende Nachricht im Rundfunk verlesen wurde. Mehrmals täglich. Doch alles vergebens. Keine Reaktion. Ich mache mir die bittersten Vorwürfe. Hätte ich nur nie diese bösen Zeilen geschrieben. Sie haben mein Lebensglück zerstört…

23.April, 24 Uhr
Meine Stoßgebete sind erhört worden. Er hat mir eine letzte Chance gegeben! Für vierhunderttausend würde er mir das Buch verkaufen. Für den Preis hat er übrigens schon mehrere andere Interessenten. Zugegeben, im Grunde ein fairer Preis. Ich bin alleinstehend. Für was sparen? Aber andererseits…Wenn doch alles nur eine Finte ist? Betrug und Bauernfängerei? Ich muss Sicherheiten haben. Das muss jeder verstehen. Er hat eine neue Chiffrenummer.

28. April, vier Uhr früh
Der Erpresser ist auf meine Forderung eingegangen! Mit der heutigen Post kam eine Originalseite der Barockgedichte. Sorgfältig herausgetrennt. Offenbar mit einem Skalpell. Habe tagelang Papiersorten und Drucktypen verglichen, habe sogar Chrysantheme Fingerle ein daumennagelgroßes Originalfragment abluchsen können. Es kann keinen Zweifel mehr an der Echtheit des Beweismittels geben. Dieser Unmensch ist im Besitz eines Inselbändchens Nr.313/2. Er fordert eine halbe Million. Ich bin nervlich am Ende.

7. Mai
Habe das Haus verkauft. Lebe jetzt in Miete. Sehr winzig das Zimmerchen. Hinterhof, aber sehr günstig. Den Großteil meiner Bibliothek musste ich in Kisten verpackt bei einem Großneffen unterbringen. Aber was tut das alles zur Sache? AUF DEM ROHEN BORD ÜBER MEINEM BETT STEHEN – DIE DEUTSCHEN BAROCKGEDICHTE! Sie verwandeln mein bescheidenes Zuhause in eine Schatzkammer. Alles in mir ist Ruhe und Frieden. Ein Leuchten erfüllt den Raum.

8.Mai
(unleserliche Eintragung)

9.Mai
(unleserliche Eintragung)

11.Mai
Man hat mir die rechte Hand losgebunden, damit ich einige Zeilen schreiben kann. Der Doktor sagt, vielleicht würde mir das gut tun. Übrigens, alle in dieser Abteilung sind sehr zuvorkommend. Die Verpflegung ist in Ordnung. Ich schlafe viel. Nur wenn die starken Beruhigungsmittel nachlassen, steigen die Erinnerungen in mir hoch. An das diabolische Grinsen des Oberinspektors Hillermeiers zum Beispiel, als er wieder mit einem Zeitungsartikel ins Büro kam. An das seltsame Zucken in meinem Großhirn, als ich die Überschrift las. Und schließlich an die Meldung selbst: Dass die verschollen geglaubte Auflage der 1943 im Inselverlag erschienenen ‚Deutschen Barockgedichte‘ fast vollständig aufgefunden wurde. In einer alten Lagerhalle. Zwischen kaputten Flugzeugreifen. Druckfrisch und original verpackt. Fünftausend Exemplare. Oder fast fünftausend – vier oder fünf fehlten!
Meine Bettnachbarn beschweren sich über mein ständiges Kichern. Die Schwester kommt mit einer Spritze. Sie ist sehr nett. Hillermeier besucht mich manchmal…