DIE SÄNGERIN
Norbert Göttler
Immer vor den Weihnachtstagen trippelt eine gebückte Gestalt die alte Pappelallee entlang, eine Frau unbestimmbaren Alters, sommers wie winters in abgenutzte Lodenumhänge gehüllt. Niemand scheint ihren Namen oder ihre Geschichte zu kennen. Wir Kinder auf dem Walpertshof nennen sie nur „die Sängerin“ und gruseln uns etwas vor ihr. Wie aus dem Nichts taucht sie auf, ebenso verschwindet sie wieder. Oft bleibt sie monatelang verschwunden. Wenn sie da ist, zieht sie eine verkratzte Mandoline aus ihrem Militärrucksack. Umständlich wird das Instrument gestimmt. Ohne zu läuten oder jemanden zu rufen, beginnt die wandernde Künstlerin mit feiner, aber überraschend sicherer Stimme, Opernarien und Volkslieder zu intonieren. Langsam wird man überall auf dem Hof auf diese ungewohnten Töne aufmerksam, Familienmitglieder und Gesinde nähern sich und bilden einen Halbkreis um die Frau. Vater achtet streng darauf, dass die jungen, stets Schabernack aufgelegten Burschen ihre Spottlust im Zaum halten. Die „Sängerin“ bemerkt nicht die feixenden Gesichter in ihrem Rücken. Während sie singt, befindet sie sich in einer anderen, früheren Welt. Bei allen Kratzern und Verletzungen: die Stimme der „Sängerin“ hat – so scheint es mir heute – einstmals professionelle Bildung erfahren. Niemand hat je nach ihrem Schicksal, ihrer Geschichte gefragt. Niemand wird je mehr erfahren, welches Opern- oder Cabaretpublikum sie einst begeistert hat, ehe Krieg und Armut, Alter und Unglück sie verweht hat auf die Landstraßen und Bauernhöfe. Obwohl bereits die sechziger Jahre geschrieben werden, geht mit der „Sängerin“ ein Hauch von Nachkriegszeit einher, der einen frösteln macht. Wenn das letzte Lied verklungen ist, nimmt die Künstlerin mit dankbarem, aber würdevollem Nicken Applaus, Lebensmittel und Geldspenden entgegen, verstaut liebevoll die Mandoline im Rucksack und macht sich davon auf ihrem Weg durch eine absurde Welt. Eines Tages hat man sich der „Sängerin“ erinnert und erstaunt festgestellt, dass seit ihrem letzten Besuch bereits mehrere Jahre vergangen sein mussten.
Das war ihr Nachruf…
BILDWORTE – WORTBILDER
Fünfundzwanzig Gedichte von Norbert Göttler
Dahin in endlose Weite,
hinaus, hinaus in die Ewigkeit,
zurücklassen die Gewichte der Welt.
buntes Drachenpapier in der Höhe,
zieht und rüttelt an der Schnur,
zum Zerreißen gespannt.
doch ach, ließe ich dich:
Zerfetztes Papier im hohen Geäst
wäre deiner kurzen Freiheit Preis.
in denselben Fluss strecken können.
auf dasselbe Gesicht werfen können.
demselben Wort zuwenden können.
Nicht nur mein Gesicht
spiegelt sich in der Strömung
des grünen Flusses.
Auch meine Bestimmung
blickt unverhofft mir entgegen.
Unruhiges Wasser auf dem Weg zum Meer.
über der Lampionwiese.
Sonnen gehen barfuss,
um den Löwenzahn nicht zu treten.
füllen den Himmel,
werfen ihre Anker
auf giftgrüne Apfelbäume.
mit Fenstern zum Aufknöpfen.
Kinder winken heraus und lachen.
Ihre Ohren sind blau,
das Rot war leider ausgegangen.
Die Schwüle des heißen Tages
Versickert in den Poren der Erde.
Flirren in regungsloser Luft,
die Schwalben fliegen tief.
Für einen wehmütigen Augenblick
Nur dasein, leben, zerfließen.
Endlose Alleen entlanggehen.
Herbstlaub aufwirbeln.
Und unseren Atem
in einer großen, weißen Wolke
vermischen.
Kein Frühling mehr,
wenn Bäume sich weigerten,
ihr braunes Herbstlaub fallen zu lassen.
Unter Schmerzen das eigene Herbstlaub
fallenlassen und hoffen
auf das Ende des Winters.
Hinter Nebelschleiern zerfällt das Jahr.
Jeder Windstoß reißt ein Stück Zeit
von den Bäumen.
Saatkrähen, schamanenhaft,
stoßen Verwünschungen aus,
die – zu Eis gefroren- ,
meine Haut durchschlagen.
setz dich auf meine müden Schultern,
putz dir die Flügel
und bring Nistgehölz mit.
ich werde dich aufscheuchen beizeiten,
dir hell lachend drohen,
Steine nachwerfen gar.
denn bald schon lockt dich mein Ruf,
eile dich dann und komm,
wehe dem, der dich hindern will.
wie reife Trauben,
zum Platzen gefüllt.
Erde und Sonne,
Tränen und Lust.
hinüberdämmern ins Nichts,
berauscht wie ein Zecher.
Worte spannen
zwischen Pflöcke und Schnüre,
dass sich mit leisem Zirpen
der Wind darin fängt.
Ein Zelt aus Worten,
das Schatten spendet
Und erzittert beim leisesten Hauch.
Aufbrechen
aus den engen Gassen
des Gewohnten,
schon bei der Dämmerung des Lichts.
Aufbrechen
in neue Welten,
nie mehr mit alten Augen sehen.
So viele Gedanken sind noch nicht gedacht.
Mit jedem Wimpernschlag: Schöpfung
Jedem Atemzug: Schöpfung.
Noch im Sterben: Schöpfung.
Nicht nur im Anfang: Schöpfung.
Über den Wassern: Schöpfung.
Immerwährend. Jetzt.
Der Himmel: Ein Kaffeehaus.
Es duftet nach Espresso,
ein Streichquartett spielt Dvorak.
Neben dem Zeitungsständer
Ein Regal voll alter Bücher.
Man spielt Schach.
Als mir die Weizenähren bis zur Brust reichten,
dachte ich, das Wogen der Felder erzeuge den Wind.
Als mir der Fluss bis zur Brust reichte,
dachte ich, das Fließen des Wassers treibe die Zeit voran.
Als mir die Zukunft bis zur Brust reichte,
dachte ich, sie rieselte endlos aus meinen Taschen.
Einen Kranz lass dir winden aus dem schwarzen Laub des Holunders,
aus schattigem Schilf, lass deinen glühenden Leib kühlen mit Moos,
mit sanftem Regen aus den Bergen.
Lass dir einschenken Schatten und Wind,
lass dich bewirten mit einer Handvoll Licht.
Lass mich deinen Lebensdurst stillen mit einem Becher roten Weins
– oder Bluts.
Lass uns gemeinsam Hohlwege gehen, singen in der Nacht,
lass uns lieben wie fauchende Katzen, Nachteulen,
lass uns zechend die Zeit zu Grabe tragen.
Lass mich heben dein Herz an meine Lippen.
verglühen die Farben der Dinge,
verschmelzen in grauen Ozeanen
und unversehens wird es abends.
verblühen die Blumen des Festes,
verwehen in herbstlichen Himmeln,
und unversehens wird es abends.
verlieren an Horizonten sich die Wege,
verwischen die Spuren der Füße,
und unversehens wird es abends.
Bring nichts mit
als eine Handvoll Stunden.
Einen Korb voller Ohren.
Ein lachendes
und ein weinendes Auge.
Ein wenig Duft von draußen
und den Glanz
der letzten Sommersonne
auf deinen Lippen.
Bring nichts sonst mit,
es ist viel genug.
Auf Ungereimtes reimen?
Aus Unerschöpflichem schöpfen?
Über Unbeschreibliches schreiben?
Am Unerforschlichen forschen?
Ich lösche das Licht. Auch Bücher können zuviel reden.
Ich lösche das Licht und schenke mir die Nacht.
Was aber, wenn der reine Wein
nach bitterer Wahrheit schmeckt?
Was aber, wenn die ehrliche Haut
mit allen Wassern gewaschen ist?
Was aber, wenn das offene Wort
aus verschlossenen Herzen kommt?
Was aber, wenn die klare Sache
aus dem Trüben gefischt wurde?
Die Flussarme unserer Seele.
Sie lassen sich nicht beobachten,
vielleicht noch formen.
Auf keinen Fall aber lassen sie sich
– aufhalten.
Sie würden über die Ufer treten
Und fruchtbares Land zerstören.
Ich schlafe, doch meine Augen sind offen.
Ein Auge ist schlaftrunken,
das andere hellwach.
Ich atme schwer und eine innere Unruhe
reibt von Innen meine Haut wund.
Meine Träume trinken Regen
und in den Haaren nistet der Zweifel.
wird nicht das Wesen des Feuers begreifen,
sondern es zum Erlöschen bringen.
wird nicht zur Tiefe der Kunst vordringen,
sondern nackte Leinwand finden.
wird nicht die Himmel begreifen,
sondern an ihrer Unendlichkeit verzweifeln.
Die Zeit ist ein Floß aus Papier,
es löst sich auf, sobald das Ufer erreicht ist.
Eine Wolke, die verdunstet an den Hängen der Berge.
Wie Gletschertrümmer bröckelt das Leben,
wilde Tropfen steigen auf in den Dunst,
unaufhaltsam stürzt es in das Tosen des Urmeers.
Noch stehe ich.
Doch mein Schatten liegt schon hart auf dem Boden.
Noch Frage ich.
Doch mein Schweigen dringt schon ein in die Gewölbe der Seele.
Noch hoffe ich.
Doch der Zweifel lähmt schon die ersten Fasern meines Herzens.