Auch Wörter haben ihre Geschichte. In besonderer Weise gilt das für unsere beiden Kontrahenten „Multkulti“ und „Leitkultur“. Ursprünglich trockene Konzeptbegriffe aus den Studierstuben der Soziologen und Politologen, haben sie sich in Windeseile emotional hoch aufgeladen.
Der sperrige Begriff „Multikulturalismus“ ist ein sozialphilosophischer Theorieansatz, der davon ausgeht, dass die meisten modernen Staaten de facto von einer Vielfalt ethnischer, kultureller, sexueller und religiöser bzw. areligiöser Anschauungen geprägt sind und diese Staaten eine solchen Wertepluralismus auch schützen und pflegen sollten. Diese Anschauung lehnt eine dominante Nationalkultur ebenso ab wie die US-amerikanische Vorstellung vom „melting pot“, einem Schmelztiegel, in dem sich alle Kulturen amalgamisieren und zu einer neuen Kultur vereinen sollten.
Ziel des Multikulturalismus ist der multikulturelle Staat, der keine zentralen Werte ausruft, keinen Druck zur Assimilation ausübt, sondern nur die friedliche Toleranz der unterschiedlichsten Gruppen gewährleisten soll. Kaum hatte der Begriff „Multikulturalismus“ seine Kinderstube verlassen, hagelte es auch schon Kritik. Der Begriff wurde als „Multikulti“ verhöhnt und als Kampfbegriff in die politische Diskussion eingeführt. Konservative Wissenschaftler und Politiker – vom britischen Premier Davon Cameron bis zum römischen Kurienkardinal Gianfranco Ravasi, dem früheren Präsidenten des päpstlichen Kulturrats – witterten viele in dem Konzept Werterelativismus, Identitätsverslust und Auflösung jeglicher gesellschaftlichen Ordnung. Selbst Daniel Cohn-Bendit, Gründer des Frankfurter Amtes für multikulturelle Angelegenheiten, räumte ein erhebliches Konfliktpotential ein, sollten die unterschiedlichsten Gruppen innerhalb eines Staates sich nicht mehr auf einen gemeinsamen Wertekanon einigen können: „Die multikulturelle Gesellschaft ist hart, schnell, grausam und wenig solidarisch, sie ist von beträchtlichen sozialen Ungleichgewichten geprägt.“
In ähnlicher Weise argumentiert der deutsch-syrische Politologe und Horkheimer-Schüler Bassam Tibi, der dazu den Begriff der „Leitkultur“ einführte. Die Leitkultur der westlichen Moderne beruhe auf kulturellen Errungenschaften wie Demokratie, Laizismus, Aufklärung, Menschenrechte und Zivilgesellschaft. In seinem Buch „Europa ohne Identität?“ sprach Tibi 1998 von einer „europäischen Leitkultur“, Zeit-Herausgeber Theo Sommer und CDU-Politiker Friedrich März spitzten die Begrifflichkeit in der Folge auf eine „deutsche Leitkultur“ zu. Gelegentlich fanden sich gar Stimmen, die eine „bayerische Leitkultur“ forderten.
Gegen diese einseitige Darstellung setzte sich Bassam Tibi zur Wehr, auch der Philosoph Jürgen Habermas protestierte dagegen öffentlich. Er setzte dem Begriff „Leitkultur“ das Konzept „Werte der kulturellen Moderne“ entgegen, die auf folgenden Stützpfeilern stünden: Vorrang der Vernunft vor religiöser Offenbarung, Demokratie, Trennung von Religion und Politik, Pluralismus und Toleranz. In Hinblick auf die Integration von Migranten (die ja nur einen Teil der Multikulturproblematik darstellt) regt Bassam Tibi die Formulierung einer „Europäischen Werteorientierung“ an, die einen Kulturpluralismus mit Wertekonsens beinhalten und „wertebeliebige“ Parallelgesellschaften verhindern solle.
Dieser Kulturpluralismus setzt sich aus ausdrücklich für eine kulturelle Vielfalt ein, doch formuliert er einen Minimalanspruch „kulturübergreifender Basiswerte“. So muss es etwa als Gemeingut gelten, dass sich auch in Deutschland nicht die islamische „Scharia“ über die Grundnormen des Grundgesetzes stellen darf. Vom Begriff der „Leitkultur“ ist Bassam Tibi selbst ausdrücklich abgerückt, weil er durch die missverständliche politische Debatte den Begriff als „vergiftet“ ansah. Der Münchner Philosoph Julian Nida-Rümelin griff diese Debatte auf, indem er darauf hinwies, dass sich in einer „Leitkultur des Humanismus“, die er fordert, auch außereuropäische Elemente finden und gewürdigt werden müssen.
Wörter und Begriffe, so stellten wir eingangs fest, haben ihre Geschichte. Manche Geschichten könnten auch enden, sie sollten das unserem Fall auch. “Multikulturalismus“ und „Leitkultur“, sie haben je eine Geschichte des Scheiterns hinter sich. Extremer Multikulturalismus heißt ja, nicht nur die – vielfach bereichernde – Alltagskultur aller gesellschaftlicher Gruppen zuzulassen, sondern auch grundgesetzfeindliche Menschenbilder und Rechtspraktiken, wie das Recht zum Ehrenmord, zur Zwangsverheiratung, zur Zwangsbeschneidung bei Mädchen und Frauen, zur Witwenverbrennung. Und auch innerhalb des abendländischen Kulturkreises werden nicht alle Werte gleichermaßen geteilt. Ein strenger Multikulturalismus müsste z.B. auch jedem US-Amerikaner auf deutschem Boden das Recht zum Waffentragen in der Öffentlichkeit zubilligen.
Eine extreme und damit missbräuchliche Verwendung des Begriffs „Leitkultur“ hingegen hieße, die eigene ethnographische Identität unkritisch zum alleinigen Maßstab gesellschaftlichen Zusammenlebens zu machen. Ein solcher Ansatz übersieht (geflissentlich?), dass jede Kultur sich in der Befruchtung durch fremde Kulturen entwickelt hat und einem permanenten Wandlungsprozess ausgesetzt ist. Wenn Heimat immer mehr auch die Heimat des Anderen ist, die es gemeinsam zu gestalten gilt, werden manche lieb gewonnenen Gewohnheiten aller gesellschaftlicher Gruppen und Kulturen fragwürdig und mancher Kompromiss nötig. Das gilt auch für die konkrete Ausgestaltung und Gewichtung einzelner Elemente von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und soziale Marktwirtschaft.
Zu Recht gibt es darüber eine interkulturelle Diskussion. Nicht alles, was sich in einem Kulturraum positiv entwickelt hat, muss für einen völlig anderen gelten. Diese Toleranz darf aber nicht zu Nihilismus und Relativismus führen. Der Kerngedanke der Menschenrechte, dass die Würde eines jeden Menschen nicht angetastet werden darf, ist keine post-kolonialistische Bevormundung, sondern eine menschheitsgeschichtliche Errungenschaft, hinter die wir nicht zurückfallen dürfen. Wenn wir aus eigener intellektuell-ethischer Trägheit nicht bereit sind, dies anderen Kulturen und Regierungen zu vermitteln, fallen wir nicht nur all jenen in den Rücken, die sich weltweit für Menschenrechte und Demokratisierung einsetzen, sondern nehmen es hin, dass sich auch für unsere eigene Heimat enorme Konsequenzen ergeben werden.
Jenseits der Kampfbegriffe „Multikulti“ und „Leitkultur“ könnten Begriffe wie „Dialogischer Pluralismus“ oder „Werte der kulturellen Moderne“ eine kreativere Rolle im gesellschaftlichen Diskurs spielen. Sie stehen für eine differenzierte, unpolemische Auseinandersetzung darüber, wie unterschiedliche Kulturen in einer offenen Gesellschaft miteinander umgehen sollten. Ein „Dialogischer Pluralismus“ ist nicht wertebeliebig, sondern soll ein Aufeinanderzugehen der Kulturen ermöglichen. Ziele sind die Festschreibung und die rechtsstaatliche Durchsetzung von „kulturübergreifenden Basiswerten“ (Habermas), z.B. in Form der freiheitlich-demokratischen Verfassung einer „offenen Gesellschaft“. Sprachlose Parallelgesellschaften sind am wenigsten geeignet, zu einem toleranten Miteinander der Kulturen beizutragen. Verantwortung dafür, sie nicht entstehen zu lassen, tragen gesellschaftliche Minderheiten wie Mehrheiten gleichermaßen.
Editorische Notiz zur Reihe „Gedanken aus Dachau“
Solange es eine zivilisierte Menschheit gibt, wird der Name „Dachau“ mit seinem 1933 bis 1945 von den Nationalsozialisten betriebenen Konzentrationslager im kollektiven Gedächtnis als Symbol der Menschenverachtung belegt bleiben. Das Bemühen vieler, die Stadt heute als Lernort gegen totalitäre Gewalt zu etablieren, verdient allen Respekt und jegliche Unterstützung. Neben einer akribischen Geschichtsaufarbeitung sollten von solch einem Lernort auch Impulse der gegenwärtigen Menschenrechts- und Demokratiedebatte ausgehen.
Für dieses Anliegen möchte die vorliegende Reihe „Gedanken aus Dachau“ einen kleinen Beitrag leisten. Die Texte von Norbert Göttler verstehen sich als komprimierte Arbeits- und Argumentationshilfen sowie als Inspiration zum Weiterdenken.
Dr. phil. Norbert Göttler, 1959 in Dachau geboren, studierte in München Philosophie, Theologie und Geschichte. 1988 wurde er im Fach Sozial- und Wirtschaftsgeschichte promoviert. Er arbeitet als Publizist, Fernsehregisseur und Schriftsteller. Göttler ist Mitglied des deutschen PEN-Zentrums und Vize-Dekan an der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Von 2011 bis 2023 war er Bezirksheimatpfleger von Oberbayern. 2004 wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet.