Zum Hauptinhalt springen

Rede zum 79. Jahrestag der Befreiung des KZ Dachau

WIEDER AN DER GRENZE
Rede zum 79. Jahrestag der Befreiung des KZ Dachau
Schießplatz Hebertshausen 4. Mai 2024

Schnurgerade zieht der Pflug seine Spur. Wie Messer zerschneiden die Scharen die schwarze Mooserde und werfen sie in lockere Schollen. Weiße Steine liegen darin. Krähen stürzen auf die frisch aufgeworfene Erde und picken danach.

Seit Stunden steuert der Junge den Traktor, Zeile für Zeile, auf und ab, gedankenverloren. Drüben am Rand des Feldes ist nur Gestrüpp zu sehen, Brombeerranken und wilde Birken.

Die Grenze zu dieser Wildnis wird von einer schnurgeraden Reihe hoher Betonsäulen markiert. Einige von ihnen sind abgebrochen, aus den Abbruchstellen ragt verrostetes Eisen. Geheimnisvoll und bedrohlich stehen sie in der Wildnis. Stacheldrahtreste hängen an ihnen. Ein Papiersack hat sich daran verfangen und jammert im Wind.

Das Gelände hinter den Pfosten, so haben es die Erwachsenen dem Jungen gesagt, habe einst seinem Großvater gehört.+

 

Der Junge auf dem Traktor, Sie ahnen es meine Damen und Herren, bin ich. Ich bin Jahrgang 1959. Aufgewachsen auf dem Gut Walpertshofen, zwei Kilometer von hier entfernt. Ich bin Historiker und war bis vor kurzem hauptamtlicher Heimatpfleger des Regierungsbezirks Oberbayern.

Am 20. Januar 1937 bekam mein Großvater vom Münchner Amt des Reichsführers SS, Karlstraße 10, einen Brief, in dem er aufgefordert wurde, sich unmittelbar in das Bürgermeisteramt Hebertshausen zu begeben, und den SS-Totenkopfverbänden drei Tagwerk Mooswiese zu überschreiben. Zwecks Einrichtung eines Schießstandes, so das Schreiben. Festgelegt wurde eine symbolische Abtretungssumme.

Den Brief habe ich mitgebracht.

 

Bereits fünf Tage danach wurde die Übertragung amtlich. Drei Jahr später, 1940, starb mein Großvater, der Gutsbesitzer von Walpertshofen, im Alter von 48 Jahren an Herzversagen.

Wir wissen alle, wie die Geschichte weiterging. Die Errichtung einer abgeschotteten paramilitärischen Schießanlage, die ab 1941 zur Vernichtungsstätte wurde.

 

Wenn wir heute an dieser Grundstücksgrenze zwischen fruchtbarem Ackerland und blutgetränkter Mordstelle stehen, so hat dies eine große symbolische Ausdruckskraft.

  • Dieser Ort zeigt uns: Das Böse ist nicht irgendwo. Es ist nicht abstrakt, sondern konkret und überall in örtlicher Nähe. Das Böse kann – um mit Hannah Arendt zu sprechen – banal sein und nur wenige Meter neben uns stattfinden.
  • Dieser Ort zeigt uns: Das Böse geschieht nicht irgendwann. Es kann sich von heute auf morgen manifestieren, wenn man die Vorzeichen nicht erkennt. Das Böse kann ein konkretes Datum haben. Am 25. Januar 1937 wurde verbrieft, dass aus einer blühenden Wiese eine Todeshölle wurde.
  • Schließlich: Das Unheil kann sich unkenntlich machen. Den Anliegern von 1937 schien es, als entstünde vor ihren Augen ein Truppenübungsplatz wie jeder andere. Bald schon gewöhnte man sich an die Salven der Maschinengewehre und die Donner der Kanonen. Schulterzucken. Was dann 1941 und 1942 geschah, wollte oder konnte man nicht erkennen.
  • Und letztlich: Das Unheil kann sich manifestieren, festsetzen, wenn man es zu spät erkennt. 1933 war es für den deutschen Durchschnittsbürger zu spät, 1937 auch und 1941 erst recht. Jahrzehnte früher hätte man den Dämon erkennen können und müssen.

Nicht jedem ist es gegeben, in einem Unrechtsstaat zum Widerstandskämpfer und Märtyrer zu werden. Aber auch in einem Unrechtsstaat gab es verschiedene Wege, dem Bösen zu begegnen.

 

Es lebten auch in dieser Umgebung Menschen, die dem Gewaltregime der Nationalsozialisten bis zum Ende verfallen waren.

Und es lebten Menschen wie Hans Köchl, ein einfacher Kriegsversehrter des Ersten Weltkriegs, der den Häftlingen vielfache Hilfen zukommen ließ. Vor kurzem ist das neue Gemeinschaftshaus von Prittlbach nach ihm benannt worden.

 

Wie in ganz Deutschland wurden auch in den umliegenden Dörfern Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter eingesetzt. Zweifellos ein völkerrechtswidriges Unrecht.

Aber auch innerhalb dieses Unrechtssystems konnte man sich immer noch entscheiden. Es gab Bauern, die ihre Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen so behandelten, dass diese im April 1945 zu ihren Beschützern wurden und später – längst in ihre Heimat zurückgekehrt – jahrzehntelange Freundschaften pflegten.

Und es gab Bauern, die ihre Zwangsarbeiter malträtierten, sodass sie 1945 selbst Opfer von Rache und Gewalt wurden.

 

Der Schießplatz, auf dem wir hier stehen, ist kein militärischer Übungsplatz wie jeder andere, wie es unseren Vorfahren vorgegaukelt wurde. Er wurde zur Stätte tausendfacher Morde.

Die letzten Blicke der Delinquenten fielen auf fruchtbare Hügel und Wiesen, auch auf die Bahnlinie, die den Weg zur Freiheit bedeuten hätte können. Die letzten Blicke fielen aber auch auf die Stacheldrahtzäune, die sie von der Freiheit trennte. Dieses doppelte Symbol wird wohl immer diesen Ort prägen.

 

1977 attestierte der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich den Deutschen, sie hätten eine „Unfähigkeit zu trauern“ generiert. Seitdem sind viele Jahrzehnte vergangen und das genannte Bild stellt sich differenzierter dar.

Es wird aber eine bleibende Aufgabe sein, Gedenkstunden wie diese einer gewissen „Erinnerungs-Routine“ zu entreißen, wie sie uns von Kritikern vorgeworfen wird.

 

Und es wird eine bleibende Aufgabe sein, den heutigen Dämonen der Gewalt rechtzeitig entgegenzutreten.

Das Erkennen der Dämonen muss immer im Heute geschehen. Auch im Jahr 2024. Das ist die einzige Lehre, die man aus diesem Grenz-Ort ziehen kann.

Auch wir Heutigen stehen an einer Grenze. Wieder.